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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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auseinander und wenn es das nicht wert sein soll, gefeiert zu werden, hat die Schönheit keine Chance. Heimlich lädt er Kollegen mit ihren Frauen zu einem Hotelaufenthalt nahe Helsingör ein. Als er später am selben Tag mit seiner ahnungslosen Frau und der Familie eintrifft, gratulieren die Freunde in Frottémänteln.
    Der Sohn verbringt zwei Tage im Swimmingpool mit Wellenmaschine. Es bedarf jedoch keiner großen Phantasie, um zu begreifen, dass die wirklichen Wellen woanders schlagen. Sobald die Umstände es erlauben, sucht der Vater die Nähe der Mutter. Sie zieht es jedoch vor, im Liegestuhl zu lesen oder Spaziergänge zu machen, statt vermeintlich vorteilhafte Angebote zu diskutieren. Alles, was sie tut, ist von sachlicher Verzögerung geprägt. Es ist, als müsse sie nachdenken, ehe sie angemessen reagieren kann. Ihre Zärtlichkeiten sind steif, das Verhalten ist höflich, aber distanziert. Ein Drama ohne Dramatik spielt sich ab.
    Das ganze Wochenende vergeht, bis der Sohn erkennt, dass ein Mensch mit seinen Bewegungen sparsam umgehen muss, wenn er in Seenot gerät.

Die Esse

    Vor dem Fall der Junta verbringt die Familie ihre Sommer an der Küste. Wenige Kilometer vom graugrünen Wasser der Hanö-Bucht entfernt liegt zwischen Fichten und Kiefern ein gelbes Sommerhaus mit Holzöfen und Plumpsklo. Vor dem Umzug nach Mittelschweden erwerben die Eltern es als Sicherheit. Der Gedanke, nicht am Meer zu leben, scheuert in der Brust des Vaters. Die früheren Besitzer sind zwei Schwestern, die ins Altersheim gezogen sind. Das Häuschen bekommt einen neuen Anstrich, ist aber so primitiv, dass nebenan ein neues gebaut wird. Es ist zwei Zimmer größer, wird braun gebeizt und mit einer Sauna ausgestattet, die auch als Trockenklosett gedacht ist. Diese zwei mit Holzlatten verkleideten Quadratmeter sind die Esse des Vaters. Wo andere Entspannung suchen, erhöht er den Druck. Will er wichtige Entscheidungen treffen, hebt er den unbenutzten Abort hinaus, gießt Wasser auf die Steine und verriegelt die Tür. Wenn er zu guter Letzt hinausstolpert, ist er glücklich und rot. Das Feuer stehlen? Ein Kinderspiel. Er hat es schon.
    Glüht wie Eisen.

An niemand Bestimmten gewandt

    Die Großmutter kommt, gewöhnlich im Sommer, zu ihrem alljährlichen Besuch aus Wien. Ihr weißer Koffer klirrt geheimnisvoll, wenn sie ihn abstellt. Der Sohn kennt den Grund. In Kleider gewickelt liegen in ihm die begehrten Gläser mit Marillenmarmelade. Wenn die Großmutter zwei Monate später wieder packt, sind die Gefäße durch Steine und Treibholz ersetzt worden, die sie bei langen Spaziergängen am Strand sammelt.
    Einige Tage nachdem sie, wie sich herausstellen wird, zum letzten Mal eingetroffen ist, regnet es. Der Sohn steht auf der Treppe zum Sommerhaus, als er die Eltern auf dem Kiesweg näher kommen sieht. Ihm wird klar, dass sie am Strand gewesen sind. Sie gehen langsam und nachdenklich, in ein Gespräch vertieft. Der Sohn will rufen, hält jedoch inne. Beim Anblick des Paars empfindet er Freude. Die Großmutter legt ihre Hand auf seine Schulter. Als die Eltern durch das Gartentor treten, schließt der Vater seinen Regenschirm und geht zum Auto, die Mutter hat feuchten Glitzer in den Haaren. Als sie die Treppe hinaufgeht, bleibt ihr Blick beharrlich auf die Mutter gerichtet.
    Am selben Abend bestreicht die Großmutter Brote. Während der Sohn spürt, wie die Marmelade zwischen seine Zähne dringt, tupft sie mit dem Finger Brotkrümel von der Wachstuchdecke auf und sagt an niemand Bestimmten gewandt: »Die Ehe ist ein Geheimnis zwischen zwei Menschen. Wir schützen sie mit unserem Schweigen. Dann schenkt sie uns Mut, wenn wir ihn brauchen.«

Jetlag

    Erst ein halbes Jahr später begreift der Sohn, dass die Eltern vielleicht über die Krankheit der Großmutter sprachen.

Die Eingeweide der Sonne

    Im folgenden Sommer hält der Sohn das letzte Glas Marillenmarmelade ins Licht. Das österreichische Wort verkörpert den Inhalt besser als jede schwedische Vokabel. Als er das Gefäß dreht, schimmert es, als wäre es in Brand gesetzt worden. Darin liegt etwas ebenso Strahlendes wie Verheerendes, was er mit der Großmutter und ihren Erzählungen über die Kriegsjahre verbindet – über die Nachbarsfamilie, die eines Tages fort war, gleichsam in Luft aufgelöst, über die Schneiderpuppe, die im Fenster stand und bei einem sowjetischen Flugangriff beschossen wurde, über den Stoffdrücker der Nähmaschine, der sich durch die Stoffbahnen pflügte,

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