Die Hallen der Unendlichkeit (German Edition)
könnt mich nicht durch eine unbedachte Äußerung verletzen. Ich bin es gewohnt, einsam zu sein und verachtet zu werden. Und Ihr habt vollkommen Recht! Würde ich hier nicht gebraucht werden, dann dürfte ich mich hier auch nicht aufhalten. Tatsächlich habe ich auch hier eine Aufgabe zu erfüllen. Es könnte doch sein, dass es aufgrund des genossenen Alkohols jemand aus Unterstadt wagt, sich an einem der Kaufleute zu vergreifen! Stellt Euch diesen Skandal vor! Und damit sich dann nicht die vornehmen Diener dieser Herren, die sich schließlich selbst als Herren fühlen, um den Schutz des Kaufmannes bemühen müssen, habe ich einzuschreiten und für Ordnung zu sorgen. Meistens genügt meine Anwesenheit, dass nichts geschieht.“
Die Gefährten warfen einen unauffälligen Blick auf die Hunde, die in der Ecke lauerten, und ließen ihre Augen über die Gestalt des Schwarzgewandeten gleiten, wenn sie glaubten, dass dieser es nicht sah. Der schien die Rolle des Gastgebers zu genießen und plauderte munter weiter.
„Wisst Ihr, es ist schon paradox: Ich verfüge durchaus über so etwas wie Bildung. Meine Mutter hat mich Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt. Sie brachte mir auch Manieren bei. Ich habe mir darüber hinaus ziemlich viel angelesen; Ihr solltet mein Heim sehen, Ihr würdet es für eine Bibliothek halten, denn ich besitze Bücher aus dieser Halle und vielen anderen, sogar einige Bücher von der Erde. Ich habe jedes davon wenigstens einmal gelesen. So habe ich die Bildung und die Manieren eines Adligen, der noch weit über den Kaufleuten steht, auch wenn er sich von diesen immer wieder aufgrund seines aufwendigen Lebenswandels Geld leihen muss. Ich habe die Reichtümer eines Kaufmannes, denn für meine Arbeit, so niedrig sie auch angesehen wird, verlange ich reichlich Lohn. Ich habe keine Konkurrenz zu fürchten und kann also verlangen, was ich will, jede meiner Forderungen wird erfüllt. Und trotz dieser Vorzüge, die sich doch in meiner Person vereinen, will selbst der Abschaum aus Unterstadt nichts mit mir zu tun haben, weil er mich als jemanden ansieht, der noch tiefer steht als er selbst. Ich bin ein Paria, ein Unberührbarer.“
Die letzten Worte spie Brutus aus, und diesmal lachte und lächelte er nicht. In seinen Augen lag ein düsteres Funkeln. Lars, Mike und Jonathan machten sich gerade Gedanken darüber, auf wessen Kosten sie aßen und tranken und womit das Geld für die Speisen verdient worden war. Da es unter Umständen mit einem groben Strick aus Hanf zu tun hatte, blieb ihnen im Augenblick alles im Halse stecken.
„Dann seid Ihr wohl gewiss ledig, nicht wahr?“ fragte Hans.
Brutus schnaubte verächtlich. „Was glaubt Ihr wohl, wer würde mich schon heiraten? Es wundert mich, dass Ihr nicht schon längst aufgestanden und davongegangen seid.“
Hans ignorierte diese indirekte Frage. „Wie kam es dazu, dass Ihr diese Berufe übernommen habt?“
„Ich habe die Tätigkeiten und den damit verbundenen gesellschaftlichen Stand von meinem Vater geerbt“, antwortete Brutus, jetzt wieder in gleichmütigem Ton. „Ihr werdet ja wohl begreifen, dass der Sohn eines Henkers kaum die Chance hat, etwas Besseres zu werden als sein Vater. Nein, nein, an gesellschaftlichen Aufstieg war nicht zu denken.“
„Dann muss aber doch Euer Vater eine Frau gefunden haben“, bohrte Hans weiter nach. „Wo lernte er die kennen?“
Nun zeigte Brutus erstmals so etwas wie Trauer und Wehmut. Er sah gedankenverloren in sein Weinglas und antwortete: „Tja, er hatte Glück und sie, meine Mutter, hatte Unglück. Sie kam aus gutem Hause, war die zweitälteste Tochter des reichsten Kaufmannes von LaGranata. Sie hatte sich in einen jungen Mann aus Unterstadt verliebt. Ihr Vater hat diese Liebe aber nicht gebilligt. Er drohte seiner Tochter sie zu verstoßen. Das hat sie nicht gestört. Sie liebte den jungen Mann aus Unterstadt so sehr, dass sie für ihn ihre Eltern und Oberstadt verließ. Ihr Pech war nur, dass die Leute aus Unterstadt diese Verbindung ebenfalls missbilligten. Es kam, wie es kommen musste: Als sie bereits ein Kind von ihrem Liebsten erwartete, verunglückte dieser bei einem Grubenunglück. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Tja, und da stand sie nun, die schwangere junge Frau, und war weder in Oberstadt noch in Unterstadt geduldet.“
Hans nickte verstehend. „Und da nahm sie der Henker auf.“
„So ist es“, bestätigte Brutus. „Der Mann, als dessen Sohn ich aufwuchs, war eigentlich nur mein
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