Die Hand die damals meine hielt - Roman
Sie begleitet sie hinaus. »Vielen Dank«, sagt sie, während sie die Tür hinter ihr schließt. »Auf Wiedersehen.«
A lexandra verkriecht sich für den Rest des Tages in ihrem Zimmer, klemmt einen Stuhl unter die Klinke, damit ihre Geschwister nicht hereinkönnen. Die stehen schnatternd und schimpfend auf der anderen Seite der Tür, aber sie lässt sich nicht erweichen. Nachdem sie ausgiebig über einem Stadtplan von London gebrütet hat, nimmt sie einen Koffer vom Schrank, schüttelt den Staub aus dem violetten Innenfutter und sieht eilig ihre Kleiderbügel durch, um zu entscheiden, was sie in ihr neues Leben mitnehmen, was sie dalassen will. Fasziniert von dem sich abspielenden Drama schieben ihr die kleineren Geschwister Zettel, Plätzchen und - rätselhafterweise - ein Haarband unter der Tür hindurch.
»Du kannst dich doch bei der Uni entschuldigen«, rät ihr ein Kind durchs Schlüsselloch. »Vielleicht nehmen sie dich dann wieder.«
»Aber ich will mich nicht entschuldigen!«, ruft Alexandra. »Es tut mir überhaupt nicht leid.«
»Und wenn du nur so tust, als ob?«, sagt das vernünftige Kind. »Du brauchst es doch nicht ernst zu meinen.«
Alexandra stromert durch das Zimmer. Sie isst ein paar Plätzchen, liest ein, zwei Kapitel in einem Buch, steckt ihre Haare hoch, löst sie wieder, dreht sie zum Knoten ein. Sie schmiert wütend einige Seiten in ihr Tagebuch. Übt Handstand am Spiegel.
Als es dunkel wird und die Familie unten beim Abendessen sitzt, lehnt sich die freiwillige Gefangene Alexandra so weit wie möglich aus dem Fenster - Arme und Beine in der Luft, Bauch auf dem Sims.
Sie hat gerade ihr Körpergewicht ausbalanciert, die Füße hoch, die Hände höher, eine engelhaft schwebende Mädchengestalt, als sich auf der Straße ein knatterndes Motorengeräusch nähert. Sie hebt den Kopf: verliert das Gleichgewicht, ihre Füße knallen auf den Boden, und sie schrammt sich am Fensterbrett die Hüfte. Sie späht ins Dunkel.
Da! Ein Auto kommt, die Kurven schneidend, die Straße heraufgeschossen, ein helles Auto mit offenem Verdeck. Das Knattern des Motors schwillt an und ab. Der Fahrer, der mit im Wind flatternden Haaren und hochgezogenen Schultern am Steuer sitzt, ist nicht zu erkennen, aber sie ist überzeugt, dass er es ist. Alexandra stellt sich auf die Zehenspitzen und winkt, einmal nur und gänzlich unbemerkt.
Im selben Moment kommt der Wagen mit quietschenden Bremsen schlingernd zum Stehen. Ohne den Motor abzustellen, springt der Fahrer heraus - hochgewachsen und im hellen Anzug. In seiner Hand blitzt etwas Weißes auf. Er scheint einen Augenblick zu zögern. Sieht er zum Haus herüber? Warum, um Gottes willen, hat Alexandra bloß das Licht nicht angemacht? Dann könnte er sie hier oben am Fenster sehen. Sie überlegt kurz, zum Schalter zu laufen, aber sie will ihn auf gar keinen Fall aus den Augen lassen.
Er stopft das weiße Etwas in die Hecke. Sie irrt sich bestimmt nicht. Dann steigt er wieder ein und ist im nächsten Augenblick hinter der Biegung verschwunden.
Alexandra stürmt die Treppe hinunter, durch die Küche, wo ihre Familie beim Essen sitzt, reißt eine Taschenlampe vom Haken und stürzt zur Hintertür hinaus. Mit bloßen
Füßen läuft sie durch das feuchte Gras; Bäume und Büsche zeichnen sich wie schwarze Scherenschnitte gegen den Himmel ab.
Sie beeilt sich, denn sie weiß, dass ihr nicht viel Zeit bleibt, falls ihre Mutter ihr folgt. In ihrer Hast hätte sie den Zettel, der in der Hecke steckt, fast übersehen, aber der Schein der Taschenlampe findet ihn.
Alexandra , steht da in ziemlich krakeliger schwarzer Schrift. Hier meine Karte. Besuchen Sie mich, wenn Sie in London sind. Ich lade Sie zum Lunch ein. Ihr Innes Kent.
Und ein sonderbares Postskriptum: Obwohl mir die Verkürzung von Namen ebenso zuwider ist wie Ihnen, bin ich mir nicht sicher, ob »Alexandra« wirklich zu Ihnen passt. Mir scheint es, als bräuchten Sie einen Namen mit mehr Elan. Ich sehe Sie eher als eine »Lexie«. Was meinen Sie?
Sie liest die Nachricht zweimal, das Postskriptum dreimal. Dann faltet sie den Zettel zusammen, steckt ihn in die Tasche ihres blauen Kleides und setzt sich im Dunkeln auf den Baumstumpf. Sie ist Lexie. Die nach London geht. Die sich mit Männern in Entenei-Krawatten zum Lunch verabredet.
E rinnerst du dich?«, fragt Elina. Ted starrt unverwandt auf den Fernseher. Noch nie hat es drei Worte gegeben, die ihn mehr mit Unbehagen erfüllen. »Wo war das noch mal, wo es
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