Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
Vom Netzwerk:
wäre. Dass sie noch schwanger hier neben ihm sitzen würde mit dem Baby im Bauch und unversehrt, dass kein Arzt sie aufgeschnitten hätte und ihr Leben fast verronnen wäre.

    Ted schluckt ein paarmal. Er räuspert sich, dehnt die Schultern, lockert seinen steif gewordenen Hals. Und wieder schiebt sich langsam das flache, endlose Meer in sein Gesichtsfeld, schaukelnde Wellenbewegungen, von denen ihm übel wird. Er greift zur Fernbedienung und schaltet um, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Ein Quiz, ein Werbespot, eine Frau in einem Garten, ein Mann mit einer Pistole, ein Löwe, der im hohen Gras kauert. Ted wirft die Fernbedienung auf den Tisch.
    Er hat schon immer ein schlechtes Gedächtnis gehabt. Schlecht ist gar kein Ausdruck. Große Teile seines Lebens sind wie von einem trüben Dunst verschluckt. Ted ist sich ziemlich sicher, dass er sich an nichts erinnern kann, was vor seinem neunten Lebensjahr passiert ist, als er im Garten eines Freundes vom Baum gefallen ist und sich den Arm gebrochen hat. Er erinnert sich, dass der Vater des Freundes mit ihm in die Notaufnahme fuhr und sich der Gipsverband kühl und zugleich heiß anfühlte; er weiß noch, dass die Krankenschwester ihm das Wort »Gypsophila« beigebracht hat und wie peinlich es ihm war, dass seine Mutter mit wehendem Mantel durch die Notaufnahme gerannt kam und »Wo ist mein Sohn?« schrie. Aber alles andere ist bloß ein angenehm undeutliches Rauschen wie von einem schlecht eingestellten Radio.
    Seine Mutter dagegen suhlt sich regelrecht in Erinnerungen: »Weißt du noch, wie du einmal am Strand auf einem Esel geritten bist? Da war ein dreibeiniger Hund. Und dir ist dein Eis aus der Hand gefallen. Weißt du noch, wie du geweint hast? Du konntest gar nicht mehr aufhören. Wie ich mit dir in die Eisdiele gegangen bin und dir ein neues gekauft habe? Weißt du noch?« Wenn sie diese Geschichten ausgräbt, nickt er brav, aber er hat keine Erinnerungen daran.
Er sieht nur einzelne Bilder, wie Urlaubfotos, die sie ihm vorlegt und vor seinen Augen so oft durchgemischt hat, dass sie den Erinnerungen gleichen oder sie sogar verdrängen. Sie hat eine ganze Sammlung solcher Anekdoten über ihn, und er kennt sie alle: dass ihm einmal eine Hutschachtel vom Kleiderschrank auf den Kopf gefallen ist und er dabei eine so üble Schramme auf der Nase abbekommen hat, dass sich seine Mutter schämte, mit ihm vor die Tür zu gehen; dass er einmal auf einem Jahrmarkt einen Goldfisch gewonnen hat, der ihm später auf dem Parkplatz hinfiel, und dass sie ihren Sohn so lange an sich drückte, bis der Fisch im Staub nicht mehr zuckte und zappelte; dass er einmal einen Mann mit Glatze gefragt hat, wo seine ganzen Haare hin wären; dass er einmal seiner Cousine ein Trostlied gesungen hat, weil sie gestolpert war und sich das Schienbein aufgeschürft hatte. Vom ständigen Wiedererzählen sind ihm diese Episoden so vertraut, dass er sie auswendig kennt. Aber sie scheinen nicht das Geringste mit ihm zu tun zu haben.
    Während seine wiederauferstandene Freundin mit dem Kopf auf seinem Schoß liegt, während sein neugeborener Sohn auf der anderen Seite des Zimmers schläft, kommt Ted zum allerersten Mal der Gedanke, dass er vielleicht deshalb so wenig mit diesen Geschichten anfangen kann, weil nicht eine einzige davon mit seinen eigenen verschwommenen Kindheitserinnerungen übereinstimmt. Die Version seiner Mutter, dieses Karussell aus Belohnungen und Eseln, Jahrmärkten, Liedern und Sommerferien, passt nicht zu dem, was ihm selbst im Gedächtnis geblieben ist. Er erinnert sich daran, wie extrem kalt es bei ihnen zu Hause war, weil nur die unteren Etagen von einem widerspenstigen, Öl saufenden Ofen im Keller beheizt wurden. Im Winter waren die verschossenen gelben Vorhänge in seinem Kinderzimmer
morgens mit Eis beschlagen. Er weiß noch, dass er viel allein war. Dass er, das einzige Kind in einem Haus voller Erwachsener, an den nicht enden wollenden Sonntagnachmittagen immer wieder das Treppengeländer hinuntergerutscht ist. Er erinnert sich an lange, sinnlose Stunden im Garten, in denen er versucht hat, die Nachbarskatze von der Mauer zu locken. An immer wieder neue Aupairmädchen, zu deren Aufgaben es gehörte, ihn zur Schule zu bringen, mit ihm in den Park zu gehen, in der U-Bahn mit ihm ins Britische Museum zu fahren, ihm nach der Schule etwas zu essen zu machen. Besonders gut erinnert er sich an eine Französin - der Name fällt ihm nicht ein -, die ihm nicht das übliche

Weitere Kostenlose Bücher