Die Hand die damals meine hielt - Roman
hätte.
Er legt seine Hand um ihr Gesicht und fährt mit dem Daumen die Konturen ihres Kinns ab.
In Innes geht etwas Ungewöhnliches vor. Er versteht es selbst nicht ganz. Aber er kann genau sagen, wann es angefangen hat, diese leise Verrücktheit, diese Besessenheit: Als er vor gut zwei Wochen über eine Hecke spähte und eine Frau auf einem Baumstumpf sitzen sah. Er schaut auf den Tisch, auf den Boden. Einen Augenblick lang spürt er die riesigen Ausmaße der Stadt, ihre ganze Vitalität und Weite, und es ist ein Gefühl, als ob er und dieses Mädchen, diese Frau, sich genau in ihrem Zentrum befänden, im Auge des Sturms, als ob sie dort ganz allein wären. Er sieht sie einmal kurz von der Seite an, aber nur, um einen Blick auf ihre übereinandergelegten Handgelenke zu erhaschen und wie sich die Ärmel darüberbreiten.
Es kommt ihm merkwürdig und zugleich vollkommen selbstverständlich vor, dass sie hier mit ihm sitzt. In ihm regt sich der unbestimmte Wunsch, ihr etwas kaufen zu wollen - egal was. Ein Gemälde. Einen Mantel. Ein Paar Handschuhe. Er würde ihr gern dabei zusehen, wie sie ein Geschenk auspackt, wie ihre Finger das Band lösen und das Papier zurückschlagen. Aber er schiebt den Gedanken beiseite. Er darf keinen Fehler machen, nicht dieses Mal, nicht bei ihr. Er weiß nicht, warum, doch er erkennt, dass diese Frau anders ist, dass er sie braucht. Ein unerklärlicher Gedanke.
Um sich abzulenken redet er. Er erzählt ihr von seiner Zeitschrift, von seiner letzte Reise nach Paris, wo er mehrere Gemälde und zwei Skulpturen gekauft hat. Er handelt nämlich nebenher ein wenig mit Kunst. Das müsse er, weil die Zeitschrift überhaupt kein Geld abwerfe. Die Skulpturen seien von unbekannten Künstlern, und genau das sei für ihn das Auf regende daran. Das Werk eines etablierten Künstlers
kaufen könne schließlich jeder. An dieser Stelle unterbricht sie ihn: Jeder, der Geld hat, und er nickt und sagt: Stimmt. Aber um auf einen Unbekannten zu setzen, brauche man Sachverstand und eine gehörige Portion Wagemut. Er könne nicht beschreiben, was für ein Gefühl es sei, wenn man in das Atelier eines Künstlers komme und sofort wisse, jawohl, das ist es, das hat etwas. Und dann beschreibt er es ihr in aller Ausführlichkeit.
Er erklärt, wie er ein Kunstwerk verpacken lässt, erst in Sägespäne, dann in Zeitungspapier und zuletzt in Kisten. Nachdem er es wieder ausgepackt habe, müsse er mit einem weichen Naturhaarpinsel das Sägemehl abstauben. Diese Aufgabe vertraue er nie jemand anderem an, was, wie er zugibt, ein wenig lächerlich sei. Denn es bedeute, dass er die meisten Abende mit einem kleinen Pinsel in der Hand im Hinterzimmer der Redaktion verbringe. Beim Bilderpinseln?, sagt sie, und er lacht. Ja, so könne man es ausdrücken.
Sie stellt nicht viele Fragen, aber sie hört zu. Mein Gott, und wie sie zuhört. Wie ihm noch nie ein Mensch zugehört hat. Als ob jedes einzelne seiner Wörter Sauerstoff enthielte. Mit großen Augen und vorgebeugtem Oberkörper. So konzentriert, dass er sich am liebsten so weit zu ihr neigen würde, bis sich ihre Köpfe berühren, um sie flüsternd zu f ragen: Was? Was ist es, was ich sagen soll? Worauf wartest du, auf welches Wort?
Sein Vater, erzählt er ihr, war Engländer, seine Mutter eine Mestizin aus dem damals noch unter spanischer Kolonialherrschaft stehenden Chile. Halb chilenisch, halb schottisch, daher sein schottischer Vorname und seine schwarzen Haare. Lexie fallen fast die Augen aus dem Kopf. Seine Mutter stammte aus Valparaiso, sagt er. Lexie bildet das Wort mit den Lippen nach, als ob sie es sich genau einprägen
wolle. Sein Vater sei nach Chile geschickt worden, um dort sein Glück zu machen. Er sei der zweitgeborene Sohn wohlhabender Eltern gewesen. Als er zurückgekommen sei, habe er ein Vermögen mitgebracht und eine recht exotische Ehefrau. Er sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als Innes zwei Jahre alt war. Können Sie sich noch an ihn erinnern?, fragt Lexie, und Innes sagt, nein, überhaupt nicht. Seine Mutter habe immer davon gesprochen, nach Chile zurückzukehren, aber sie sei in England geblieben. Sie hätte es ohnehin nicht gekonnt. Warum nicht?, will Lexie wissen. Anscheinend will sie immer alles wissen. Weil es dort nichts mehr für sie gab, sagt er, nichts, was sie noch kannte. Es ist heute ein anderes Land.
T ed schiebt den Kinderwagen vor sich her. Er glaubt nicht, dass er jemals zuvor so früh am Morgen im Park gewesen
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