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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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sich Notizen. Eine andere misst mit einem Lineal ein Blatt Papier ab und unterhält sich über ihre Schulter hinweg mit einem Mann, der hinter ihr an einem Schreibtisch sitzt. In einer Ecke des Raums drängt sich eine Menschentraube vor einigen Seiten, die an die Wand geheftet sind. Und neben den Männern, die etwas ans Licht halten, steht Innes, ohne Jacke und mit hochgekrempelten Ärmeln.
    Innes ist zur Zeit wie elektrisiert von seiner Zeitschrift. Das ganze Blatt wird komplett umgestaltet - Aufmachung,
Inhalt, Ausstrahlung. Die erste runderneuerte Ausgabe ist einer Künstlerin gewidmet, von der Innes überzeugt ist. Er glaubt, dass sie Zukunft hat und dass man sich noch lange an sie erinnern wird, nachdem all diese Leute hier zu Staub zerfallen sind.
    Staub ist überhaupt ein Thema, das ihn heute stark beschäftigt. Die Künstlerin arbeitet nämlich mit weißem Lehm, den sie so lange bürstet und glättet, bis er die Textur von warmem Kinderfleisch annimmt, was unweigerlich dazu führt, dass …
    Fleisch? Innes stolpert über das Wort und bleibt daran hängen. »Fleisch« ist kein gutes Wort. Doch halt: Muss es zwangsläufig Tod bedeuten? Nein, muss es nicht. Aber dass es ihn impliziert, genügt Innes, um das Wort aus dem Absatz zu tilgen, an dem er im Geiste feilt, während er den Fotografen darauf hinweist, dass er bei diesen Aufnahmen Staub auf dem Objektiv gehabt haben muss, denn die Klarheit und das leicht schmutzige Weiß, die das Erkennungszeichen dieser Künstlerin sind, kommen überhaupt nicht heraus.
    Innes fährt gedanklich mehrgleisig. Er denkt: Ist es richtig, den Titelkopf leicht angeschrägt zu platzieren? Kommt so die Schlichtheit der neuen Schrifttype ausreichend zur Geltung? Denn die Schrift muss schlicht sein, Helvetica vielleicht oder Gill Sans, auf keinen Fall Times oder Palatino, sie darf nicht von der Aufnahme der Skulptur ablenken. Er denkt: Warmes Kinderfleisch? Nein. Braucht er das Wort »Kind« überhaupt? Warme Haut? Warmes Fleisch? Kann die Nebeneinanderstellung von »warm« und »Fleisch« die Anklänge an den Tod aufheben? Er denkt: Überlasse ich es Daphne, in der Druckerei anzurufen, oder kümmere ich mich doch lieber selbst darum?

    Während er durch das Büro geht, fällt sein Blick aus dem Fenster, und er ist so versunken in die Gedanken an seine Zeitschrift, dass sich das Bild der Frau auf dem Bürgersteig in seinen Kopf stiehlt wie ein Geräusch in die Träume eines Schlafenden. Augenblicklich sieht Innes die Frau neben ihm am selben Tisch an einer Schreibmaschine sitzen, die eleganten Knöchel übereinandergeschlagen, das Kinn in die Hand gestützt, den Kopf zur Seite gedreht, um auf die Straße hinausblicken zu können, während sie nachdenkt.
    Innes bleibt wie angewurzelt stehen. Der Titelkopf darf nicht angeschrägt sein. Er muss gerade sein, rechtsbündig, ganz unten auf der Titelseite. Das hat es noch nie gegeben! Als Schrift kommt nur Gill Sans in Frage, fett, 48 Punkt, Kleinbuchstaben. So:
     
    elsewhere
     
    Und darüber schwebt dann die Aufnahme von der Skulptur, als wäre der Titelkopf, der Name der Zeitschrift, der Boden, der Tragbalken, das Sprungbrett des Werks. Was ja, wie Innes findet, auch irgendwie stimmt!
    »Halt!«, ruft Innes dem Layouter zu. »Augenblick. Ganz nach unten damit. So. Nein, hierher. Gill Sans, fett, 48 Punkt. Ja, Gill Sans. Nein. Perfekt. Ja.«
    Die Männer mit den Kontaktabzügen, Daphne am Telefon, der Filmkritiker, der gerade zu Besuch ist, und der Layouter lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, als Innes erst sekundenlang die Tür anstarrt und dann urplötzlich nach draußen stürmt.
    Innes Kent springt die Treppe hinunter. »Sie«, sagt er. »Sie haben mich warten lassen. Kommen Sie sofort hierher.« Er breitet schwungvoll die Arme aus.
    Lexie blinzelt. Sie hat noch ihren Stadtplan und seine
Visitenkarte in der Hand. Aber sie geht zu ihm - wie auch nicht? -, und er umfängt sie in einer Umarmung. Während sich ihr Gesicht in seinen Anzug presst, hat sie auf einmal den Eindruck, dass sich der Stoff bekannt anfühlt. Sie streicht mit der Fingerkuppe darüber, macht sich los und sieht ihn sich genauer an.
    »Filz«, sagt sie.
    »Wie bitte?«
    »Filz. Ihr Anzug ist aus Filz.«
    »Ja. Gefällt er Ihnen?«
    »Ich weiß nicht.« Nachdenklich tritt sie einen Schritt zurück. »Ich habe noch nie einen Anzug aus Filz gesehen.«
    »Das kenne ich.« Er grinst. »Das ist ja gerade der Clou. Mein Schneider wusste auch nicht, was er davon halten

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