Die Hand die damals meine hielt - Roman
die Straße.
Am Rand von Soho bleibt Lexie stehen. Sie tastet nach Innes Kents Zettel und Visitenkarte, die sie seit dem Tag, an dem sie ihn kennengelernt hat, in ihrer Handtasche bei sich trägt. Sie muss sie nicht lesen, aber sie tut es trotzdem. Herausgeber , steht da, elsewhere magazine, Bayton Street, Soho, London WI.
Am Morgen war Lexie Mrs. Collins auf der Treppe in die Arme gelaufen, und ihr rutschte aus Versehen heraus, dass sie im Laufe des Tages nach Soho wollte. Die Wirtin reagierte schockiert. Lexie wollte wissen, warum. »Soho?«, antwortete Mrs. Collins. »Da treiben sich doch nur Trinker und Künstlertypen herum.« Sie kniff die Augen zusammen. »Sie«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf Lexie. »Sie wollen immer wissen, warum. Neugier ist der Katze Tod.« Lexie lachte. »Aber ich bin keine Katze, Mrs. Collins«, rief sie und sprang die letzten Treppenstufen hinunter.
Lexie blickt die Straße hinauf, die auf ihrem Stadtplan als Moor Street verzeichnet ist. Für ein Viertel, in dem es von Trinkern nur so wimmelt, kommt es ihr ruhig und f riedlich vor. Ein Auto parkt am Bordstein; ein Mann lehnt an einem Türpfosten und liest Zeitung; eine Markise über einem Laden ist halb eingerollt; eine Frau beugt sich aus einem Fenster im dritten Stock und gießt ihren Blumenkasten.
Lexie macht einen Schritt nach Soho hinein, dann noch
einen und noch einen. Sie hat das seltsame Gefühl, sich selbst gar nicht zu bewegen, als ob sich der Bürgersteig unter ihr hinwegschiebt und die Häuser und Straßenschilder an ihr vorbeigleiten. Ihr Schuhe machen beim Gehen ein helles Geräusch: tock-tock . Der Mann mit der Zeitung blickt auf. Die Frau im Fenster hält mit dem Blumengießen inne.
Sie kommt an einem Käseladen vorbei, in dessen Schaufenster sich wagenradgroße Laibe stapeln. Ein Mann in einer weißen Schürze steht im Eingang und ruft einer Frau mit Kind auf der anderen Straßenseite in einer fremden Sprache etwas zu. Er lacht Lexie an und nickt, sie lächelt zurück. Vor einem Café um die Ecke unterhalten sich Männer in einer anderen fremden Sprache. Sie bilden eine Gasse, durch die Lexie knapp hindurchpasst, und einer von ihnen spricht sie an, aber sie dreht sich nicht um.
Die Gebäude stehen dicht an dicht, dunkler Backstein, enge Straßen. In der Gosse strömt und plätschert noch das Regenwasser. Um die nächste Ecke und die übernächste, vorbei an einem chinesischen Lebensmittelladen, wo eine Frau narbige gelbe Früchte zu einer Pyramide auftürmt, vorbei an einem Eingang, in dem zwei lachende schwarze Männer auf Stühlen sitzen. Mitten auf der Straße eine Schar Matrosen in blau-weißen Uniformen, die im Chor schief und holprig ein Lied singen; ein Botenjunge auf einem Fahrrad, der um die Seeleute herumkurven muss, dreht sich schimpfend nach ihnen um. Zwei oder drei Matrosen, die sich darüber ärgern, sprinten hinter ihm her, aber der Junge tritt kräftig in die Pedale und verschwindet um die nächste Ecke.
Das alles sieht Lexie. Ihr entgeht nichts. Und alles, was sie sieht, scheint wichtig zu sein: das flatternde Band an der Mütze eines der Matrosen, die rotbraune Katze, die sich auf einem Fensterbrett putzt, die Dampfschwaden, die vor einer
Bäckerei in der Luft wabern, die - italienischen, portugiesischen? - Wörter in Kreideschrift auf einer Tafel, die neben einem Laden hängt, die mit Gelächter durchsetzten Melodienfetzen, die aus einem vergitterten Kellerfenster auf den Bürgersteig wehen, der Mantel mit dem Pelzkragen und die Tasche mit dem goldenen Verschluss der Frau, die ihr auf der anderen Straßenseite entgegenkommt. Mit einem Gefühl, das zwischen Panik und Euphorie hin und her schwankt, saugt Lexie alles in sich auf, jedes noch so kleine Detail: Es ist vollkommen, alles hier ist vollkommen, es könnte nicht vollkommener sein, aber was, wenn sie sich nicht alles merken kann, was, wenn ihr auch nur die winzigste Kleinigkeit entgeht?
Etwas unvermittelt findet sie sich auf einmal vor dem Haus in der Bayton Street wieder. Es ist zwischen zwei höhere Gebäude eingezwängt und hat eine symmetrisch gestaltete Front; in der Mitte die Eingangstreppe und rechts und links davon Schiebefenster. Von den Fenstersimsen und der Regenrinne schält sich in Kringeln die Farbe ab. Im zweiten Stock fehlt eine Scheibe.
Hinter den Fenstern im Erdgeschoss kann Lexie etliche Leute erkennen. Zwei Männer halten etwas ans Licht und betrachten es angestrengt, eine Frau telefoniert, nickt und macht
Weitere Kostenlose Bücher