Die Hand die damals meine hielt - Roman
einen Vormittag schulfrei bedeuteten - ging er mit seiner Mutter Tee trinken. Statt also im Mathe-, Chemie- oder Geschichtsunterricht zu hocken, saß er bei Claridge’s oder im Savoy und aß Sandwiches oder Cremeschnittchen, während seine Mutter ihnen einschenkte. Die Ärzte konnten nichts feststellen, sagten sie ihr. Es ließe sich leider nichts machen. Wahrscheinlich werde es sich auswachsen. Und sie schrieb ihm weiter Entschuldigungen für den Sportunterricht, für Rugby und Schwimmen. Einmal hatte er seinem Vater erklärt, es sei ein Gefühl, als ob er Engel sehen könne, als ob die Sonne über aufgewühltes Wasser streiche. Sein Vater war unbehaglich in seinem Sessel herumgerutscht und hatte ihn gefragt, ob er nicht ein bisschen Cricket mit ihm üben wolle. Mit versponnenem Gerede konnte er nichts anfangen.
Genau wie Ted es kennt, zerfällt das spiegelnde Feuer in der Mitte seines Gesichtsfelds nach und nach in kleine Stücke, die zum Rand dessen wandern, was er sehen kann, und schließlich verschwinden. Und dann ist Ted wieder der, der er vorher war, ein Mann, der auf einer Bank sitzt und sich an einem Kinderwagen festhält. Unter der Decke wird es unruhig; eine kleine Hand schießt hervor, die gekrümmten Fingerchen streifen Elinas Zeichnungen. Ted nimmt es als
Aufbruchssignal, steht auf und schiebt das Kind den Berg wieder hinunter.
Elina ist im Garten. Es ist Tag. Die Sonne steht hoch am Himmel, die Blumentöpfe, der zusammengerollte Schlauch, der alte Blecheimer sind in ihre eigenen, tintenschwarzen Schatten getaucht. Sie liegt, auf einen Ellenbogen gestützt, auf einer Decke, und neben ihr im Gras müht sich ihr Schatten darum, seine Form zu behalten. Es ist ein aussichtsloser Kampf gegen die unzähligen Halme. Die Ränder des Schattens sind zersplittert, zerfasert, wie Treibholz im Meer.
Als Elina den Blick von ihrem Schattenriss abwendet, bemerkt sie die Rassel, die sie in der rechten Hand hält: eine komplizierte Konstruktion aus bunten Stangen, Glöckchen und durchsichtigen, mit kleinen Perlen gefüllten Kugeln. Unter der Rassel liegt das Kind. Auf dem Rücken, die Augen fest auf sie geheftet. Unter seinem fragenden Blick kommt sie sich wie bei einem Verhör vor.
Sie schwenkt die Rassel, und die bunten Perlen kullern durcheinander. Die Wirkung ist erstaunlich. Der Kleine spricht sofort darauf an. Er spannt Arme und Beine an, seine Augen springen weit auf, seine Lippen öffnen sich zu einem kreisrunden O. Es ist, als ob er ein Handbuch des Menschwerdens studiert hätte, unter besonderer Beachtung des Kapitels »Wie man Überraschung zum Ausdruck bringt«. Sie schüttelt die Rassel noch einmal, und seine Gliedmaßen bewegen sich wie Kolben rauf und runter. Sie denkt: Ich mache das wie eine richtige Mutter.
Aus dem Haus dringt ein Klappern, und sie blickt hoch. Es ist Ted, der, eingerahmt vom Küchenfenster, einen Topf
vom Herd nimmt. Er ist diese Woche daheim, erinnert sie sich, er hat sich f reigenommen.
Sie wendet sich wieder dem Kind zu. Sie streicht ihm über das Schläfenhaar, das unerklärlicherweise immer heller wird, sie streichelt seinen Wangenbogen, sie legt ihm die Hand auf die Brust und fühlt, wie sich seine Lunge mit Luft füllt und wieder leert, füllt und wieder leert.
Sie setzt sich auf. Ein Eichhörnchen mit grau geflecktem Schwanz springt blitzschnell von einem Blumentopf an die Wand ihres Studios, hakt sich mit den Krallen ins Holz, klettert aufs Dach und huscht davon. Es hat den Topf so stark erschüttert, dass die zusammengerollten weißen Blütenblätter der Calla erzittern.
Offenbar hat sie sich zu schnell aufgesetzt, denn ihr ist so, als ob die Farben des Gartens, ihrer aufgestickten Schmetterlinge und des Strampelanzugs sekundenlang kräftiger aufleuchten. Und dann tritt Ted aus dem Haus in die helle Sonne, eine schimmernde Gestalt, die sich in zwei Hälften zu gabeln scheint, so dass es einen Augenblick lang aussieht, als wäre da noch ein anderer Mensch, der direkt hinter ihm schwebt. Er kommt über den Rasen auf sie zu, gefolgt von dem Schemen.
»So«, sagt er. »Und schön alles aufessen. Pasta al limone , mit f rischen …« Er sieht ihr ins Gesicht. »Was hast du?«
»Nichts.« Elina ringt sich ein Lächeln ab. Er soll sich nicht aufregen. »Ich glaube, ich brauche meine Sonnenbrille.«
Nach dem sonnendurchfluteten Garten ist es im Haus so dunkel und schattig, dass sie es fast nicht wiedererkennt. Sie blickt um sich, als ob sie es zum ersten Mal sieht. Die
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