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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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Arme noch immer verschränkt, wie eine Frau, die sich innerlich auf einen Sprung vom Zehnmeterturm vorbereitet, und er sah, dass sie bei ihm bleiben und nicht, wie er manchmal fürchtete, nach New York oder Hongkong oder sonstwohin entschwinden würde. Er erinnert sich daran, dass er sich vorkam, als ob er einen Röntgenblick hätte, als ob er durch sie hindurchsehen
und den Keim des winzigen Menschleins in ihr erkennen könnte.
    Und während er daran denkt und auf seinen Sohn hinuntersieht, lächelt er. Die Augen des Kleinen scheinen seinen Blick zu suchen und zu erwidern, dann wandern sie weiter und bleiben an einem Punkt hinter Teds Kopf hängen. Ted hat keine Vorstellung, keinen Begriff davon, wie es sein mag, die Welt zum allerersten Mal zu sehen. Noch nie eine Mauer, eine Wäscheleine, einen Baum gesehen zu haben. Fast tut ihm sein Sohn leid. Was für eine gewaltige Aufgabe vor ihm liegt: buchstäblich alles erst lernen zu müssen.
    Ted erklimmt die Kuppe des Parliament Hill. Zehn nach sechs. Er atmet tief ein. Das kleine Bündel im Kinderwagen ist wieder eingeschlafen, die Ärmchen weit von sich gestreckt. Innen im Wagen sind abstrakte Schwarzweißzeichnungen angehefet, geometrische Formen, wahrscheinlich von Elina. Sie hat kürzlich erwähnt, dass Babys in diesem Alter nur Schwarz und Weiß sehen. Während Ted ein paar Schritte zurückgeht, um sich auf eine Bank zu setzen, fragt er sich, woher die Wissenschaft das eigentlich wissen will.
    Er geht rückwärts. Drei oder vier Schritte. Auf eine Bank zu, von der er weiß, dass sie da ist. Hinterher erinnert er sich genau daran. Denn obwohl er mit Sicherheit weiß, wer er ist und was er tut - der Vater eines neugeborenen Kindes, der einen Spaziergang macht -, kommt es ihm für einen Moment so vor, als sei er das Kind, das neben dem gelben Vorhang am Fenster seines Kinderzimmers steht und seine Mutter belauscht, die - er kann es kaum glauben - mit jemandem streitet, der an der Tür geklingelt hat. Ted steht an seinem Kinderzimmerfenster, krallt sich in den Vorhang, sieht hinunter auf die Straße, auf einen Mann, der rückwärtsgeht,
drei oder vier Schritte, hinunter vom Bürgersteig auf die Fahrbahn, und der Mann schaut am Haus hoch, nacheinander an den Fenstern empor, die Hand zum Schutz gegen die Sonne über die Augen gelegt, und als er Ted entdeckt, winkt er. Sein Winken hat etwas Verzweifeltes, Dringliches. Als ob der Mann eine wichtige Nachricht für ihn hat, als ob er ihn zu sich herunterwinken will.
    Ted lässt sich schwer auf die Bank sacken. Die Erinnerung ist verschwunden. Das Bild von dem Mann, der vor seinem Elternhaus rückwärts die Straße entlanggeht, ist nicht mehr da. Ted starrt auf den silbernen Kinderwagengriff, der spitz die Sonnenstrahlen zurückwirft, starrt ins Gras, auf dessen langen Halmen noch immer der Tau glitzert, starrt auf den Teich am Fuß des Hügels, und dabei merkt er plötzlich, dass in der Mitte seines Gesichtsfeldes ein Loch klafft. Alles an den Rändern ist scharf, aber das, was er anschaut, ist ein blinder Fleck. Als ob sich in die Mitte einer Linse ein Loch gebrannt hätte, als ob er durch eine zersplitterte Windschutzscheibe blickt. Er kennt diese Sehstörung, er hat als Kind darunter gelitten. Obwohl sie schon seit Jahren nicht mehr aufgetreten ist, kommt sie ihm vor wie eine alte Bekannte, und er muss sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Das flammende, flackernde Feuer, das vor seinen Augen hochschlägt, das Kribbeln, das ihm den linken Arm hinunterläuft - er kann sich nicht erinnern, wann er das zum letzten Mal erlebt hat. Als er zwölf war vielleicht oder dreizehn? Obwohl er weiß, dass es wieder vergehen wird, dass es nichts zu bedeuten hat, dass es nur ein neurologischer Aussetzer, eine vorübergehende Blockade der Signalwege ist, klammert er sich mit aller Kraft an den Kinderwagengriff, als ob er sich erden müsste. Er ist kurz davor, seine Mutter anzurufen und ihr zu sagen: Weißt du was, ich
hab wieder meine Malaisen. Früher haben seine »Malaisen« ihn und seine Mutter zusammengeschweißt. Sie hat ihn mit Adleraugen beobachtet, und wenn er nur einmal kurz die Augen schloss, war sie sofort zur Stelle und fragte: »Was ist? Was hast du? Ist es wiedergekommen?« Sie schleppte Ted zu Ärzten, Optikern, Spezialisten. Mit detektivischem Eifer spürte sie einen Facharzt nach dem anderen auf. Er wurde untersucht, an einen anderen Arzt weiterverwiesen, durchleuchtet, und nach jedem dieser Termine - die für Ted

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