Die Hand die damals meine hielt - Roman
sollte. Aber zum Schluss habe ich ihn dann doch überzeugt.« Er nimmt ihre Hand und zieht sie mit sich. »Also dann. Lunch. Haben Sie Hunger? Hoffentlich gehören Sie nicht zu den jungen Frauen, die nichts essen.« Er redet fast so schnell, wie er geht. »Sie sehen nicht so aus, als ob Sie viel essen. Aber ich bin halb verhungert. Ich könnte eine ganze Schafherde vertilgen.«
»Sie sehen auch nicht gerade wie ein großer Esser aus.«
»Bin ich aber. Der Schein trügt. Sie werden schon sehen.«
Zügig marschieren sie die Straße entlang, eine Gasse hinunter, um eine Ecke, vorbei an einem Mann, der mit zwei Frauen Händchen hält, eine auf jeder Seite, beide mit glänzenden Ledergürteln, alle drei lachend. Vorbei an einem Laden mit ausländischen Zeitungen auf Drehständern, vorbei an einer Gruppe dunkelhäutiger Mädchen, die schwere Säcke tragen. Vor einem Restaurant bleibt Innes stehen. Über der Tür blinkt in blauer Neonschrift der Name: »APOLLO«. Er hält ihr die Tür auf. »Da wären wir«, sagt er.
Aus der Sonne heraus geht es eine dunkle Wendeltreppe hinunter, die in einen niedrigen Raum führt. Auf den Tischen flackern Kerzen, die in Weinflaschen stecken. In einer Ecke spielt ein Mann, der einen federgeschmückten Frauenhut trägt, mehr schlecht als recht Klavier. Zwei andere Männer, die sich rechts und links zu ihm auf die Bank gequetscht haben, unterhalten sich laut über seinen Kopf hinweg. Ganz egal, was draußen jetzt für eine Tageszeit wäre, denkt Lexie, egal ob Nachmittag oder Mitternacht, hier unten bekäme man nichts davon mit. Von einer Männergruppe, die an drei aneinandergeschobenen Tischchen hockt, wird Innes mit lautem Rufen, erhobenen Weingläsern und raumgreifendem Winken begrüßt. Einer fragt: »Ist das deine Neue?« Und: »Was ist denn aus Daphne geworden?«
Innes hakt Lexie unter und führt sie ans hintere Ende des Lokals. Pfiffe und Gejohle schallen hinter ihnen her. Sie setzen sich in eine Nische, einander gegenüber.
»Wer sind die?«, fragt Lexie.
Innes dreht sich um und lässt den Blick über die Männer schweifen, die angefangen haben, den Klavierspieler mit Kerzenstummeln zu bewerfen, und lautstark nach Wein verlangen. »Sie haben viele Namen«, antwortet er, als er sich ihr wieder zuwendet. »Sie nennen sich Künstler, aber ich würde sagen, dass nur einer oder höchstens zwei von ihnen diese Bezeichnung verdienen. Die anderen sind Säufer und Schnorrer. Einer ist Fotograf. Und einer«, er beugt sich vor, »ist eine Frau, die sich als Mann ausgibt. Aber ich bin der Einzige, der das weiß.«
»Wirklich?« Lexie ist fasziniert.
»Na ja.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich und ihre Mutter. Und ihre Geliebte, würde ich mal vermuten. Es sei denn, sie wäre besonders unterbelichtet. Was wollen wir essen?«
Vergeblich versucht Lexie, die Speisekarte zu lesen. Sie ist abgelenkt von Innes in seinem blauen Filzanzug, der konzentriert die Karte studiert, von den Künstlern oder Säufern, von denen sich inzwischen einer die Kellnerin - eine rotgesichtige, üppige Mittfünfzigerin - auf den Schoß gesetzt hat, von den leeren Weinflaschen, die auf den Wandbrettern aufgereiht sind, von den Wirbelmustern auf der Tischplatte.
»Was haben Sie?« Innes tippt ihr auf den Arm.
»Ach, ich weiß auch nicht«, bricht es aus ihr heraus. »Ich wünschte bloß … Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich hätte rote Stöckelschuhe und goldene Kreolen.«
Innes verzieht das Gesicht. »Dann würden Sie nicht mit mir hier sitzen.«
»Nein?«, sagt sie. Innes holt seine Zigaretten heraus. »Könnte ich auch eine haben?«
Während er mit dem Streichholz zwei Zigaretten gleichzeitig anzündet und eine an sie weiterreicht, wendet er nicht für eine Sekunde den Blick von ihrem Gesicht. »Sie wünschen sich in Wirklichkeit gar keine goldenen Kreolen, das bilden Sie sich nur ein.«
Lexie steckt die Zigarette in den Mund. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß, was Sie brauchen«, sagt er leise. Er sieht ihr noch immer in die Augen.
Sie stutzt, dann fängt sie an zu lachen, auch wenn sie es sich selbst nicht recht erklären kann. Was meint dieser Mensch bloß damit? So schnell es gekommen ist, so schnell bricht ihr Lachen auch wieder ab, denn auf einmal regt sich ein fremdes Gefühl in ihr, in den Tiefen ihres Körpers. Es ist, als ob ihr Blut und ihre Knochen ihn gehört haben und ihm antworten. Darüber muss sie wieder lachen, und er fällt in ihr Lachen ein, als ob er verstanden
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