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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie O Farrell
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ist. Kurz nach fünf ist er aufgewacht, weil eine Hand seinen Arm rüttelte. Im ersten Augenblick begriff er nicht, was los war, warum sich da in dem dunklen Zimmer eine Frau schwankend über ihn beugte, warum sie weinte, was sie von ihm wollte. Dann war ihm alles wieder eingefallen. Es war Elina, die ihm ihren Sohn hinhielt und ihn anflehte. Bitte, kannst du ihn nehmen?
    Obwohl Ted nicht genau verstand, was sie sagte - aus ihrem Mund kam ein gebrochenes Durcheinander aus Englisch und Finnisch, möglicherweise noch mit ein paar Brocken Deutsch vermischt, bei dem es irgendwie ums Schlafen, ums Weinen ging -, aber was sie meinte, was sie von ihm wollte, war eindeutig. Er nahm ihr das Kind ab, sie sackte aufs Bett und war in Sekundenschnelle eingeschlafen, den Kopf halb neben dem Kissen.
    Und jetzt schiebt Ted seinen Sohn den Parliament Hill hinauf, langsam, ganz langsam, weil sie es nicht eilig haben, weil sie nirgendwohin wollen, sein Sohn und er. Die Sonne ist aufgegangen und lässt den Tau im Gras wie Glasscherben glitzern, und Ted wünscht sich, der Kleine wäre schon alt genug, dass er ihm das Funkeln zeigen könnte, und er f reut sich darauf, dass irgendwann der Tag kommen wird, an
dem sie sich während eines Spaziergangs über die optische Wirkung der frühen Morgensonne auf die Tautropfen unterhalten können und darüber, dass zu dieser unchristlichen Stunde bereits erstaunlich viele Menschen joggen und ihre Hunde Gassi führen und dass man schon jetzt merkt, was für ein heißer Tag es werden wird. Ihm wird warm ums Herz bei dem Gedanken, dass es früher oder später so kommen muss, dass dieses Kind dann noch da sein wird, bei ihnen, dass es ihnen gehört. Zugleich erscheint es ihm unmöglich. Fast rechnet Ted noch immer damit, dass gleich jemand die Hand auf den Griff des Kinderwagens legen und ihm sagen wird, tut mir leid, aber Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass Sie ihn behalten dürfen?
    Ein Mann - älter als Ted, vielleicht Mitte vierzig, braungebrannt, die Haut so dunkel wie geöltes Teakholz - wirft ihm im Vorbeijoggen ein kurzes, wehmütiges Lächeln zu. Und als der Mann ihn schon ein gutes Stück abgehängt hat, wird Ted klar, dass er ebenfalls ein Vater sein muss, dass er zu seiner Zeit vermutlich dasselbe getan hat, was Ted heute tut: die Frühschicht übernehmen, damit die Frau nach einer langen Nacht ausschlafen kann, den Wagen mit dem schlafenden Kind im Park im Kreis herumschieben. Ted spielt kurz mit dem Gedanken, hinter ihm herzulaufen und ihn anzusprechen, ihn zu f ragen, wird es einfacher, wird es besser?
    Doch er sieht nur auf seinen Sohn hinunter, der in einen gestreiften Strampelanzug verpackt ist. Streifen in Rot und Orange und grüne Druckknöpfe auf dem Bauch und an den Beinchen. Elina sagt, sie verstehe nicht, warum die Leute ihre Babys immer nur weiß und pastellfarben anziehen. Sie hasst Pastellfarben, das weiß Ted: Sie nennt sie die verwässerten Vettern der echten Farben und behauptet, dass sie davon
Zahnschmerzen bekommt. Ted erinnert sich daran, wie sie den Strampler gekauft haben. Elina war noch nicht lange schwanger, und sie hatten den Schock beide noch nicht ganz verdaut, als sie eines Tages an einem Geschäft vorbeikamen, in dem an künstlichen Ästen klitzekleine Babysachen aufgehängt waren. Es war irgendwo in Ostlondon gewesen, sie wollten zu einer Ausstellung in der Whitechapel Gallery. Seite an Seite standen sie minutenlang staunend und sprachlos vor dem Schaufenster. Ein grünes Teil mit orangefarbenen Punkten, ein pinkfarbenes mit blauem Zickzackmuster, ein violettes, ein türkisfarbenes. Ted konnte sich nicht entscheiden, ob er sie verblüffend klein oder unfassbar groß finden sollte. Dann sagte Elina: »Okay.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Verschränkte die Arme. Ted sah ihr an, dass sie sich innerlich wappnete, dass sie sich zu einer Entscheidung durchrang; und da wurde ihm klar, dass sie das Kind bekommen würden, dass es das Licht der Welt erblicken würde, und er erkannte, dass er bis zu diesem Augenblick nicht gewusst hatte, wie Elina sich entscheiden würde, ob sie es haben, ob sie es austragen wollte. »Okay«, sagte sie noch einmal, ging die zwei Schritte bis zur Ladentür und drückte sie auf. Auf Teds Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Sie würden Eltern sein, und ihr Kind würde immer satte Farben tragen. Durch das Schaufenster sah er zu, wie Elina zwei Strampelanzüge aussuchte, die Unterlippe noch immer zwischen den Zähnen, die

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