Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
wirkende Unbekannte im Wohnzimmer nichts Besonderes mehr waren.
Der Junge wandte sich wieder seiner Mutter zu. »Krieg ich jetzt mein Eis?«
»Du weißt, dass du es jetzt nicht kriegst. Und wenn du nicht leiser machst, kriegst du es gar nicht.«
»Doch, ich krieg es.« Mit diesen Worten zog er die Tür vor ihrer Nase zu.
Sie kam zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder aufs Sofa. »Alberts Tod hat ihn erschüttert.«
»Mrs. Schmitt.« In der für ihn typischen Art drückte Clamm aufs Tempo. »Detective Gurney möchte Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«
»Ist das nicht ein Zufall? Meine Tante heißt auch Bernie. Erst heute Morgen hab ich an sie gedacht.«
»Gurney, nicht Bernie«, korrigierte Clamm.
»Trotzdem fast dasselbe.« Die Bedeutung dieser Ähnlichkeit brachte ihre Augen zum Leuchten.
»Mrs. Schmitt«, fuhr Gurney fort, »hat Ihnen Ihr Mann im letzten Monat von etwas erzählt, was ihm Sorgen gemacht hat?«
»Albert hat sich nie Sorgen gemacht.«
»War er irgendwie verändert?«
»Albert war immer der Gleiche.«
Gurney hatte den Verdacht, dass diese Einschätzungen genauso gut auf der betäubenden Wirkung ihrer Medikamente beruhen konnten wie auf Alberts tatsächlichem Verhalten.
»Hat er Post mit einer handgeschriebenen Adresse bekommen? Mit roter Tinte vielleicht?«
»Wir kriegen nur Rechnungen und Werbung. Ich schau mir die Post nie an.«
»Hat sich Albert darum gekümmert?«
»Nur Rechnungen und Werbung.«
»Wissen Sie, ob Albert in letzter Zeit irgendwelche besonderen Rechnungen bezahlt oder ungewöhnliche Schecks ausgestellt hat?«
Das entschiedene Kopfschütteln verlieh ihrem Gesicht etwas schockierend Kindliches.
»Eine letzte Frage noch. Nachdem Sie die Leiche Ihres Mannes gefunden hatten, haben Sie da vor dem Eintreffen der Polizei irgendwas hier im Zimmer verändert?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubte den Hauch von etwas Neuem in ihrem Ausdruck wahrzunehmen. War das leere Starren von einem beunruhigten Blitzen unterbrochen worden?
Er beschloss, etwas zu riskieren. »Spricht der Herr zu Ihnen?«
Nun trat etwas anderes in ihre Miene, nicht Unruhe, sondern Selbstbehauptung.
»Ja, das tut er.«
Selbstbehauptung und Stolz.
»Hat der Herr zu Ihnen gesprochen, als Sie Albert gefunden haben?«
»Der Herr ist mein Hirte …« Sie machte sich daran, den gesamten dreiundzwanzigsten Psalm zu zitieren.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Gurney das ungeduldige Zucken und Blinzeln in Clamms Gesicht.
»Hat Ihnen der Herr besondere Anweisungen erteilt?«
»Ich höre keine Stimmen.« Wieder das beunruhigte Flackern.
»Nein, keine Stimmen. Aber der Herr hat zu Ihnen gesprochen, um Ihnen zu helfen?«
»Wir sind auf Erden, um Seinen Willen zu tun.«
Von der Kante des Couchtischs lehnte sich Gurney in ihre Richtung. »Und Sie haben getan, was Ihnen der Herr befohlen hat?«
»Ich habe getan, was mir der Herr befohlen hat.«
»Als Sie Albert gefunden haben, gab es da etwas, was Sie ändern mussten, was der Herr von Ihnen verlangte, weil es nicht so war, wie es sein sollte?«
Die Augen der dicken Frau füllten sich mit Tränen, die ihr über die runden Mädchenwangen liefen. »Ich musste es retten.«
»Retten?«
»Sonst hätten es die Polizisten mitgenommen.«
»Was hätten sie mitgenommen?«
»Alles andere haben sie weggebracht: die Kleider, die er anhatte, seine Uhr, seine Brieftasche, seine Zeitung, den
Stuhl, auf dem er gesessen hat, den Teppich, die Brille, das Glas, aus dem er getrunken hat … Ich meine, sie haben einfach alles weggebracht.«
»Nicht ganz, Mrs. Schmitt, oder? Was Sie gerettet haben, haben sie nicht mitgenommen.«
»Das konnte ich nicht zulassen. Es war doch ein Geschenk. Alberts letztes Geschenk für mich.«
»Kann ich das Geschenk sehen?«
»Sie haben es ja schon gesehen. Da, gleich hinter Ihnen.«
Gurney wandte sich nach hinten und folgte ihrem Blick zu der Vase mit den rosa Blumen mitten auf dem Tisch - oder dem, was sich bei genauerer Betrachtung als eine einzige Plastikblume entpuppte, deren Blüte so üppig war, dass man sie für einen ganzen Strauß halten konnte.
»Diese Blume hat Ihnen Albert geschenkt?«
Sie zögerte kurz. »Das war zumindest seine Absicht.«
»Also hat er sie Ihnen nicht wirklich gegeben?«
»Das konnte er doch nicht mehr.«
»Sie meinen, weil er getötet wurde?«
»Ich weiß, dass er sie für mich besorgt hat.«
»Das könnte sehr wichtig sein, Mrs. Schmitt.«
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