Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
und sie durch die realen Aufgaben ersetzte, die auf ihn warteten. Donnerstag. Dieser Tag war zum größten Teil für seinen Ausflug in die Bronx vorgesehen - eine Gegend unweit des Viertels, in dem er aufgewachsen war.
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Ein dunkler Tag
Die dreistündige Fahrt war eine Reise in die Hässlichkeit, und dieser Eindruck verstärkte sich noch durch den kalten Nieselregen, der immer wieder eine Anpassung des Scheibenwischertempos nötig machte. Gurney war deprimiert und nervös, zum Teil wegen des Wetters, zum Teil aber wohl auch, weil der Traum eine wunde Hohlheit in ihm hinterlassen hatte.
Er hasste die Bronx. Er hasste alles an der Bronx, von den rissigen Straßen bis zu den ausgebrannten Wracks gestohlener Autos. Er hasste die knalligen Werbetafeln, die Kurztrips mit drei Übernachtungen nach Las Vegas anpriesen. Er hasste den Geruch - ein wechselndes Miasma aus Dieseldämpfen, Schimmel, Teer und totem Fisch mit einem deutlich metallischen Grundton. Und noch mehr als das Sichtbare hasste er die Erinnerung aus seiner Kindheit, die ihn stets überwältigte, wenn er in die Bronx kam: widerliche, prähistorisch gepanzerte Pfeilschwanzkrebse mit speerartigem Schwanz, die im Watt der Eastchester Bay lauerten.
Nachdem er vor der letzten Abfahrt auf dem verstopften »Expressway« eine halbe Stunde dahingekrochen war, passierte er erleichtert die wenigen Häuserblocks bis zum vereinbarten Treffpunkt: dem Parkplatz der Holy Saints Church. Ein Schild an einer Absperrkette wies darauf hin,
dass er für Kirchenmitarbeiter reserviert war. Bis auf eine unscheinbare Chevroletlimousine war alles leer. Neben dem Wagen stand ein junger Mann mit modisch gegelter Kurzhaarfrisur und sprach in ein Handy. Als Gurney sein Auto neben dem Chevy abstellte, beendete der Mann seinen Anruf und clippte sich das Telefon an den Gürtel.
Der Nieselregen, der Gurney fast auf der ganzen Fahrt behindert hatte, war zu feinem, fast unsichtbarem Dunst geronnen, den er beim Aussteigen wie kalte Nadelspitzen an der Stirn spürte.
Vielleicht empfand es der junge Mann genauso, denn auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von gequälter Unruhe. »Detective Gurney?«
»Dave.« Gurney hielt ihm die Hand hin. »Randy Clamm. Danke, dass Sie die Fahrt auf sich genommen haben. Hoffentlich erweist es sich für Sie nicht als Zeitverschwendung. Wir wollen nur alle Möglichkeiten abdecken, und wir haben da diesen verrückten Mord, der so klingt wie das, woran Sie gerade arbeiten. Trotzdem gibt’s vielleicht keinen Zusammenhang. Ich meine, irgendwie macht es nicht viel Sinn, wenn einer im Norden einen prominenten Guru und hier in der Bronx einen arbeitslosen Nachtwächter umbringt. Aber die vielen Stichwunden am Hals, das muss einfach überprüft werden. Man kriegt so ein Gespür für diese Sachen, und man denkt sich: ›Mann, da muss ich nachhaken, am Ende ist es doch derselbe Typ.‹ Verstehen Sie, was ich meine?«
Gurney fragte sich, wovon Clamms atemloses Sprechtempo angetrieben wurde. Koffein, Kokain, Arbeitsstress oder einfach nur die Art, wie seine innere Feder aufgezogen war?
»Ich meine, ein Dutzend Stichverletzungen am Hals sieht man auch nicht alle Tage. Vielleicht stoßen wir auf
andere Verbindungen zwischen den Fällen. Womöglich hätte es gereicht, wenn wir uns gegenseitig Berichte geschickt hätten, aber ich dachte, wenn Sie persönlich hier sind und mit der Witwe des Opfers reden, dass Ihnen dann vielleicht was auffällt oder dass Sie was fragen, worauf Sie sonst nicht gekommen wären. Das war so meine Idee. Ich meine, hoffentlich springt was raus dabei. Hoffentlich ist es keine reine Zeitverschwendung für Sie.«
»Ganz langsam, Junge. Ich sag Ihnen jetzt was. Ich bin hergefahren, weil ich es für vernünftig halte. Sie wollen jede Möglichkeit nachprüfen. Ich auch. Im schlimmsten Fall eliminieren wir eine Möglichkeit, und das Eliminieren von Möglichkeiten ist keine Zeitverschwendung, sondern gehört einfach dazu. Also machen Sie sich keine Sorgen um meine Zeit.«
»Danke, Sir. Ich dachte nur… Ich meine, es war eine lange Fahrt für Sie. Das weiß ich natürlich zu schätzen.« Clamm hatte sich wieder etwas gefangen. Er wirkte noch immer fahrig, aber zumindest nicht mehr völlig überdreht.
»Ohne drängen zu wollen«, sagte Gurney, »aber wäre jetzt vielleicht ein günstiger Zeitpunkt, um mich zum Tatort zu bringen?«
»Sehr günstig sogar. Lassen Sie Ihren Wagen lieber stehen und fahren mit mir. Das Haus des Opfers ist in einem furchtbar
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