Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
hast.‹ Ich merkte, dass ich ganz blass wurde.«
»O Gott«, ließ sich eine Frau mit Pferdegesicht in einem burgunderroten Sessel auf der anderen Seite des Kamins vernehmen, während ein mitfühlendes, verärgertes Gemurmel durch den Raum ging.
»So ein Schweinehund!«, knurrte ein korpulenter Herr mit mörderisch blitzenden Augen.
»Ich war in Panik. Ich stellte mir vor, wie er meiner Mutter erzählt, dass ich ihr zwanzig Dollar gestohlen habe. Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, wie absurd und unwahrscheinlich es war, dass der kleine Gauner sich an meine Mutter wenden würde. Ich hatte viel zu große Angst, Angst, dass er es ihr verraten und sie ihm glauben könnte. Ich hatte nicht das geringste Vertrauen in die Wahrheit. Und in diesem Zustand blinder Panik traf
ich die schlechteste aller möglichen Entscheidungen. Am Abend stahl ich zwanzig Dollar aus der Geldbörse meiner Mutter und gab sie ihm am nächsten Tag. Natürlich stellte er in der folgenden Woche wieder die gleiche Forderung. Und in der Woche darauf. Und so weiter, sechs Wochen lang, bis ich schließlich von meinem Vater auf frischer Tat ertappt wurde - als ich die oberste Schublade des Sekretärs meiner Mutter schloss und den Geldschein in der Hand hielt. Ich gab sofort alles zu und erzählte meinen Eltern die ganze schreckliche Geschichte. Doch dadurch wurde es nur schlimmer. Sie riefen unseren Priester an, Monsignor Reardon, und dann musste ich im Pfarrhaus mein Geständnis wiederholen. Am nächsten Abend wurden wir wieder hingebeten, und ich musste im Beisein des kleinen Erpressers und seiner Eltern die Geschichte noch einmal erzählen. Und auch das war nicht das Ende. Meine Eltern strichen mir ein Jahr lang das Taschengeld, als Entschädigung für die Diebstähle. Ab diesem Zeitpunkt sahen sie mich mit anderen Augen. Der Erpresser verbreitete in der Schule eine Version der Ereignisse, in der er als eine Art Robin Hood und ich als feiger Petzer dastand. Und immer wieder mal bedachte er mich mit einem eisigen Grinsen, das ahnen ließ, dass er mich irgendwann demnächst vom Dach eines Hauses stoßen würde.«
Mellery unterbrach seine Geschichte und strich sich mit den Händen übers Gesicht, als müsste er seine angespannten Muskeln glätten.
Der stämmige Mann schüttelte grimmig den Kopf. »So ein Schweinehund!«
»Genau das dachte ich mir damals auch«, erwiderte Mellery. »Was für ein manipulativer, kleiner Schweinehund! Immer wenn mir die Sache einfiel, schoss mir sofort
in den Kopf: So ein Schweinehund! Zu einem anderen Gedanken war ich nicht fähig.«
»Und zu Recht!« Der Stämmige klang wie jemand, der es gewohnt war, dass man auf ihn hörte. »Genau das war er nämlich.«
»Genau das war er«, wiederholte Mellery mit steigender Intensität. »Genau das war er. Aber ich war so auf ihn fixiert, dass ich mich nie fragte, was ich war. Seine Schuld war so eindeutig, dass ich nie danach fragte, was ich damit zu tun hatte. Wer war dieser neunjährige Junge, und warum hatte er das getan? Es reicht nicht zu sagen, dass er Angst hatte. Entscheidend ist, wovor er Angst hatte. Und für wen er sich hielt.«
Überrascht stellte Gurney fest, dass auch er völlig gebannt zuhörte. Mellery hatte ihn genauso gefangen genommen wie alle anderen Anwesenden. Gurney war kein neutraler Beobachter mehr, sondern ein Beteiligter an dieser Suche nach Sinn und Identität.
Während seiner Ausführungen war Mellery dazu übergegangen, vor dem Kamin auf und ab zu laufen, angetrieben von Fragen und Erinnerungen, die ihm keine Ruhe ließen. Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihm heraus.
»Immer wenn ich an diesen Jungen dachte - an mich im Alter von neun Jahren -, war er ein Opfer, ein Opfer von Erpressung, ein Opfer seiner Sehnsucht nach Liebe, Bewunderung, Anerkennung. Er wollte doch nur, dass ihn der ältere Klassenkamerad mochte. Er war das Opfer einer grausamen Welt. Armer kleiner Junge, armes kleines Lamm im Rachen eines Tigers.«
Mellery stoppte und fuhr zu seinem Publikum herum. Seine Stimme war auf einmal ganz leise. »Aber dieser Junge war auch etwas anderes. Er war ein Lügner und ein Dieb.«
Die Zuhörer waren gespalten: Die einen hätten gern widersprochen, die anderen nickten.
»Er hat gelogen, als er gefragt wurde, wo er die zwanzig Dollar her hatte. Er hat behauptet, ein Dieb zu sein, um jemanden zu beeindrucken, den er für einen Dieb hielt. Dann, angesichts der Drohung, dass seine Mutter davon erfahren würde, wurde er tatsächlich
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