Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
zum Dieb. Er wurde zum Dieb, um in ihren Augen keiner zu sein. Für ihn zählte am meisten, dass er steuern wollte, was die anderen von ihm dachten. Im Vergleich zu dem, was sie dachten , war ihm nicht so wichtig, ob er tatsächlich ein Lügner oder ein Dieb war und welche Folgen sein Verhalten für die Menschen hatte, die er belogen und bestohlen hat. Anders ausgedrückt, es war ihm nicht wichtig genug, um ihn vom Lügen und Stehlen abzuhalten. Aber es reichte, um an seiner Selbstachtung zu nagen, wenn er log und stahl. Es reichte, damit er sich hasste und sich wünschte, tot zu sein.«
Mehrere Sekunden lang schwieg Mellery, um seine Worte wirken zu lassen, dann fuhr er fort. »Ich gebe euch jetzt eine Aufgabe. Ich möchte, dass ihr eine Liste anlegt. Eine Liste von Menschen, die ihr nicht ausstehen könnt, auf die ihr wütend seid, die euch Schaden zugefügt haben. Und dann stellt euch die Frage: ›Wie bin ich in diese Situation hineingeraten? Wie bin ich in dieses schwierige Verhältnis hineingeraten? Was waren meine Beweggründe? Wie hätte ein objektiver Beobachter meine Handlungen in dieser Lage bewertet? Dabei dürft ihr euch keinesfalls auf die schrecklichen Dinge konzentrieren, die die andere Person getan hat. Wir suchen nicht nach einem Sündenbock. So haben wir es unser ganzes Leben lang gemacht, und nichts ist dabei herausgekommen. Nichts außer einer langen, nutzlosen Liste von Leuten, denen wir die
Schuld an allem geben können, was jemals schiefgelaufen ist! Eine lange, nutzlose Liste! Die eigentliche Frage, die einzig wichtige Frage ist: › Wo war ich bei dem Ganzen? Wie habe ich die Tür geöffnet, die in dieses Zimmer führt?‹ Als ich neun war, habe ich gelogen, um bewundert zu werden, und damit die Tür geöffnet. Wie habt ihr die Tür geöffnet?«
Die zierliche Frau, die Gurney beschimpft hatte, wirkte zusehends verwirrt und hob unsicher die Hand. »Kommt es nicht manchmal vor, dass ein böser Mensch einer unschuldigen Person etwas antut - zum Beispiel ein Einbrecher, der ein Haus ausraubt? Das kann man doch nicht der unschuldigen Person anlasten, oder?«
Mellery lächelte. »Natürlich stoßen guten Menschen schlimme Dinge zu. Aber diese guten Menschen lassen nicht für den Rest ihres Lebens zähneknirschend immer wieder den inneren Film von dem Einbruch ablaufen. Die persönlichen Zusammenstöße, die uns am meisten verstören und von denen wir uns einfach nicht lösen können, sind diejenigen, bei denen wir eine Rolle gespielt haben, die wir uns nicht eingestehen wollen. Deswegen bleibt der Schmerz - weil wir uns weigern, den Ursprung anzuschauen. Wir können uns nicht befreien, weil wir uns weigern, nach dem Punkt zu suchen, wo wir festhängen.«
Mellery schloss die Augen, wie um Kraft zu sammeln. »Die schlimmsten Schmerzen in unserem Leben kommen von den Fehlern, zu denen wir uns nicht bekennen wollen - Handlungen, die so wenig in Einklang mit dem stehen, wer wir sind, dass wir es nicht ertragen, uns ihnen zu stellen. So werden wir zu zwei Menschen in einer Haut, zwei Menschen, die sich nicht leiden können. Der Lügner und der, der Lügner verachtet. Der Dieb und der,
der Diebe verachtet. Kein Schmerz ist so stark wie der Schmerz dieses Kampfs, der unter der Schwelle des Bewusstseins tobt. Wir laufen davon, doch er holt uns immer ein. Wohin wir auch fliehen, der Kampf begleitet uns überallhin.«
Mellery setzte sich wieder in Bewegung.
»Diese Aufgabe ist wichtig. Legt eine Liste von allen Leuten an, denen ihr die Schuld an den Problemen in eurem Leben gebt. Je wütender ihr auf sie seid, desto besser. Notiert ihre Namen. Je überzeugter ihr von eurer Unschuld seid, desto besser. Schreibt auf, was sie getan haben und wie ihr dadurch verletzt worden seid. Und dann stellt euch die Frage, wie ihr die Tür geöffnet habt. Wenn ihr diese Übung für Unsinn haltet, überlegt euch, warum ihr so darauf aus seid, sie euch vom Hals zu halten. Vergesst nicht, es geht nicht darum, die anderen von ihrer Schuld freizusprechen. Ihr habt gar nicht die Macht, sie freizusprechen. Dafür ist Gott zuständig, nicht ihr. Ihr seid nur für die Antwort auf eine Frage zuständig: Wie habe ich die Tür geöffnet? «
Er hielt inne und suchte Blickkontakt zu möglichst vielen der Anwesenden.
» Wie habe ich die Tür geöffnet? Das Glück eures weiteren Lebens hängt davon ab, wie ehrlich ihr diese Frage beantwortet.«
Offenkundig erschöpft kündigte er eine Pause an, »um einen Kaffee oder Tee zu
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