Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
Vom Netzwerk:
sie an. »Ist es ein Problem, wenn ich zum Institut fahre?«
    »Das Problem ist nicht, wohin du fährst, sondern warum du fährst.«
    »Um ihn zu überreden, dass er die Polizei einschaltet? Um die Nachrichten abzuholen?«
    »Glaubst du wirklich, das ist der Grund, weshalb du den ganzen Weg nach Peony fährst?«
    »Warum denn sonst?«
    Sie bedachte ihn mit einem langen, mitleidigen Blick. »Du fährst, weil dich diese Sache gepackt hat und du nicht mehr von ihr loskommst. Du fährst, weil du nicht die Finger davon lassen kannst.« Langsam schloss sie die Augen. Es war wie die Abblende am Ende eines Films.
    Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Hin und wieder beendete Madeleine einen Streit auf diese Weise. Sie tat oder sagte etwas, was seinen Gedankengang abschnitt und ihn verstummen ließ.

    Diesmal glaubte er die Ursache für diese Wirkung zu kennen, oder zumindest einen Teil davon. In ihrem Ton hatte er einen Widerhall ihrer Worte an den Therapeuten vernommen, an die er sich vor einigen Stunden so lebhaft erinnert hatte. Dieses Zusammentreffen brachte ihn aus der Fassung. Es war, als hätten sich die gegenwärtige und die vergangene Madeleine gegen ihn verbündet und würden ihm nun von beiden Seiten in die Ohren flüstern.
    Er schwieg lange Zeit.
    Irgendwann trug sie die Kaffeetassen zur Spüle und wusch sie ab. Statt sie wie üblich in den Abtropfständer zu stellen, trocknete sie sie ab und räumte sie in den Schrank über der Anrichte.
    Als hätte sie vergessen, warum sie dort stand, starrte sie weiter in den Schrank. »Wann fährst du?«
    Mit einem ratlosen Achselzucken ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen. Dabei bemerkte er einen Gegenstand auf dem Tisch hinten am Kamin. Eine Pappschachtel in der Größe und Form eines Weinkartons. Aber was ihm vor allem auffiel, war das weiße Band, das um die Schachtel führte und oben zu einer schlichten Schleife zusammengebunden war.
    O Gott. Das hatte sie also aus dem Keller geholt.
    Die Schachtel wirkte zwar kleiner und der braune Karton dunkler, als er sie nach den vielen Jahren in Erinnerung hatte, aber das Band war unverwechselbar, unvergesslich. Die Hindus hatten absolut Recht: nicht Schwarz war die natürliche Trauerfarbe, sondern Weiß.
    Er spürte eine zerrende Leere in der Lunge, als würde die Schwerkraft seinen Atem, seine Seele hinab in die Erde reißen. Danny. Dannys Zeichnungen. Mein kleiner Danny. Er schluckte und wandte sich ab, wandte sich ab von der Unermesslichkeit dieses Verlusts. Zu schwach,
um sich zu bewegen, starrte er durch die Glastür, räusperte sich und hustete, um die aufgerührten Erinnerungen durch unmittelbare Empfindungen zu verdrängen und seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Schließlich hörte er seine eigene Stimme, die das schreckliche Schweigen brach.
    »Es wird bestimmt nicht so spät.« Es kostete ihn all seine Kraft, all seinen Willen, sich vom Stuhl zu erheben. »Zum Abendessen bin ich wahrscheinlich wieder da.« Er wusste kaum, was er sagte.
    Madeleine beobachtete ihn mit einem matten Lächeln, das eigentlich kein richtiges Lächeln war, ohne etwas zu antworten.
    »Ich muss los, sonst bin ich nicht rechtzeitig da.« Blind, fast taumelnd küsste er sie auf die Wange und ging hinaus zum Auto, ohne an seine Jacke zu denken.
     
    Die Landschaft hatte sich verändert an diesem Morgen, sie war winterlicher, und die Bäume hatten praktisch alle Herbstfarben verloren. Doch das nahm er nur undeutlich wahr. Er fuhr automatisch, beinahe ohne es zu merken, verzehrt von dem Bild der Schachtel, von der Erinnerung an ihren Inhalt, von der Bedeutung ihrer Präsenz auf dem Tisch.
    Weshalb? Weshalb jetzt nach all den Jahren? Wozu? Was hatte sie sich dabei gedacht? Er war durch Dillweed und an Abelard’s vorbeigekommen, ohne es zu registrieren. Ihm war speiübel. Er musste sich zusammenreißen, sich auf etwas anderes konzentrieren.
    Wo du hinfährst, warum du hinfährst. Er zwang seinen Verstand in die Richtung der Nachrichten, der Gedichte, der Zahl neunzehn. Mellery, der an die Zahl neunzehn dachte und sie dann in dem Umschlag fand. Wie konnte
das passiert sein? Das war schon das zweite Mal, dass Arybdis oder Charybdis - oder wie der Kerl auch hieß - dieses unmögliche Kunststück geschafft hatte. Zwar bestanden gewisse Unterschiede zwischen den beiden Ereignissen, aber das zweite war nicht weniger verblüffend als das erste.
    Das Bild der Schachtel auf dem Couchtisch drückte unbarmherzig gegen die Ränder seiner

Weitere Kostenlose Bücher