Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Beweggründe
begreifen, dass wir wissen, warum wir unserer Situation und den Menschen unserer Umgebung mit bestimmten Gefühlen begegnen. Um hier Fortschritte zu erzielen, müssen wir unvoreingenommener werden. Wenn ich die Wahrheit über mich herausfinden will, darf ich nicht darauf beharren, sie schon zu kennen. Wenn ich den Felsblock auf meinem Pfad gar nicht registriere, kann ich ihn auch nicht beiseiteräumen.«
Gerade als Gurney die letzte Bemerkung als das übliche nebelhafte New-Age-Geschwafel abtun wollte, wurde Mellerys Stimme plötzlich lauter.
»Und wisst ihr, was dieser Felsblock ist? Dieser Felsblock ist der, für den ihr euch haltet, euer Selbstbild. Die Person, für die ihr euch haltet, hat die Person, die ihr wirklich seid, ohne Licht, Nahrung und Freunde eingesperrt. Solange die beiden leben, versucht die vermeintliche Person in euch schon, die wahre Person in euch zu töten.«
Mellery stockte, anscheinend überwältigt von heftigen Emotionen. Er schaute seine Zuhörer an, die kaum noch zu atmen schienen. Als er weitersprach, hatte seine Stimme wieder die übliche Lautstärke, war aber immer noch voller Gefühl.
»Die vermeintliche Person in mir hat Angst vor der wahren Person in mir, sie hat Angst davor, was andere von dieser Person denken könnten. Was würden sie mir antun, wenn sie die wahre Person in mir kennen würden? Lieber auf Nummer sicher gehen! Lieber die wahre Person verstecken, sie aushungern, sie vergraben!«
Erneut hielt er inne, und langsam verglomm das Funkeln in seinen Augen.
»Wann fängt das alles an? Wann werden wir zu diesem unharmonischen Zwillingsgespann aus einer erfundenen
Person im Kopf und einer wahren Person, die eingeschlossen ist und vor sich hinsiecht? Ich glaube, es fängt schon sehr früh an. In meinem eigenen Fall weiß ich, dass die Zwillinge ihre festen Plätze eingenommen hatten, als ich neun war. Ich möchte euch jetzt eine Geschichte erzählen. Und entschuldigt bitte, wenn einige sie bereits kennen.«
Gurney bemerkte auf einigen der aufmerksamen Gesichter ein wissendes Lächeln. Doch die Aussicht, eine von Mellerys Anekdoten ein zweites oder drittes Mal zu hören, schien sie nicht zu langweilen oder zu ärgern, sondern im Gegenteil ihre Vorfreude noch zu steigern. Es war wie die Reaktion eines Kindes auf das Versprechen, dass man ihm sein Lieblingsmärchen erzählen wird.
»Eines Tages gab mir meine Mutter vor der Schule einen Zwanzigdollarschein mit, damit ich am Nachmittag auf dem Heimweg Lebensmittel einkaufe: eine Flasche Milch und einen Laib Brot. Nach Unterrichtsende um drei Uhr hüpfte ich in eine Imbissstube neben der Schule, um eine Cola zu trinken, bevor ich zum Lebensmittelladen ging. Ein paar von den Kindern waren regelmäßig in dem Lokal. Ich legte die zwanzig Dollar auf die Theke, um zu zahlen, aber bevor mir der Mann rausgeben konnte, kam einer der Jungs herüber und sah den Schein. ›Hey, Mellery‹, sagte er, ›wo hast du denn die zwanzig Piepen her?‹ Dieser Junge war der härteste Kerl in der vierten Klasse, in der ich damals war. Ich war neun, er elf. Er war zweimal sitzengeblieben. Mit ihm war nicht zu spaßen. Nach Meinung meiner Eltern sicherlich kein geeigneter Umgang für mich. Er war oft in Raufereien verwickelt, und es ging das Gerücht, dass er regelmäßig in Häuser einbrach und Sachen stahl. Als er mich fragte, wo ich das Geld herhatte, wollte ich schon antworten, dass meine Mom es mir gegeben hatte, um Milch und Brot zu kaufen,
aber ich hatte Angst, dass er sich über mich lustig machen und mich als Muttersöhnchen beschimpfen würde. Um ihn zu beeindrucken, behauptete ich, dass ich es gestohlen hatte. Er schien interessiert, und ich fühlte mich gut. Dann fragte er mich, wem ich es gestohlen hatte, und ich sagte das Erste, was mir in den Sinn kam: meiner Mutter. Er nickte und verschwand mit einem Lächeln. Obwohl mir irgendwie nicht ganz wohl bei der Sache war, war ich erleichtert. Am nächsten Tag hatte ich das Ganze schon völlig vergessen. Doch in der folgenden Woche kam er im Schulhof auf mich zu: ›Hey, Mellery, hast du deiner Mutter wieder mal Geld geklaut?‹ Nein, antwortete ich, hatte ich nicht. Darauf er: ›Warum klaust du ihr nicht noch mal zwanzig Piepen?‹ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und starrte ihn nur an. Er setzte ein fieses kleines Lächeln auf. ›Du klaust deiner Mutter zwanzig Piepen und gibst sie mir, sonst erzähl ich ihr, dass du ihr letzte Woche auch schon zwanzig gestohlen
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