Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Elan und Eloquenz. Es verlieh ihm offenbar die Kraft, sich selbst in seinem momentanen Stress zu konzentrieren.
»Ich habe den Eindruck«, antwortete Gurney, »dass du hier nicht nur über die allgemeine menschliche Verfasstheit redest, sondern über einen persönlichen Schmerz.«
Mellery nickte bedächtig. »Es gibt keinen schlimmeren Schmerz als den Zustand, wenn zwei Menschen in einem Körper leben.«
16
Das Ende vom Anfang
Gurney hatte ein mulmiges Gefühl. Seit Mellerys erstem Besuch in Walnut Crossing hatte er es immer wieder gespürt. Nun erkannte er mit leisem Unmut, dass es sich um die Sehnsucht nach der relativen Klarheit eines echten Verbrechens handelte; nach einem Tatort, der durchkämmt und erforscht, vermessen und erfasst werden konnte; nach Fingerabdrücken und Fußspuren, Haaren und Fasern, die man analysieren und zuordnen konnte; nach Zeugen, die man befragen, Verdächtigen, die man aufspüren, Alibis, die man überprüfen, Beziehungen, die man ausloten, einer Waffe, die man finden, Kugeln, die man ballistisch auswerten konnte. Noch nie zuvor hatte er mit einem rechtlich derart zweideutigen Problem zu tun gehabt, das einem normalen Vorgehen solche Hindernisse in den Weg legte. Es war frustrierend.
Während der Fahrt vom Institut hinunter in die Stadt spekulierte er über Mellerys widerstreitende Ängste: auf der einen Seite ein bösartiger Stalker, auf der anderen Seite eine polizeiliche Untersuchung, die seine Klienten vergraulte. Mellerys Befürchtung, dass die Behandlung schlimmer sein konnte als die Krankheit, hielt die Situation in der Schwebe.
Wieder fragte er sich, ob Mellery mit offenen Karten spielte. War er sich einer Handlung aus der fernen Vergangenheit
bewusst, die die Ursache für die jetzige Hasskampagne voller Drohungen und Anspielungen sein konnte? War Dr. Jekyll bekannt, was Mr. Hyde getan hatte?
Aber Mellerys Vortragsthema von den zwei Persönlichkeiten, die in einem Körper miteinander kämpften, interessierte Gurney auch aus anderen Gründen. Es passte zu seiner eigenen Wahrnehmung aus vielen Jahren - die sich durch seine jüngste künstlerische Beschäftigung mit Verbrecherbildern noch gefestigt hatte -, dass Spaltungen der Seele häufig im Gesicht und vor allem in den Augen erkennbar sind. Immer wieder waren ihm Menschen mit zwei Gesichtern begegnet. Am leichtesten ließ sich das Phänomen an einem Foto beobachten. Dazu musste man nur abwechselnd mit einem Blatt Papier die eine und die andere Hälfte abdecken - genau in der Mitte der Nase, so dass immer nur ein Auge zu sehen war. Dann skizzierte man eine Charakterbeschreibung der Person links und der Person rechts. Die Unterschiede zwischen diesen Beschreibungen waren bisweilen erstaunlich groß. Ein Mann konnte auf der einen Seite friedlich, tolerant und weise erscheinen und auf der anderen gehässig, kalt und manipulativ. Wenn durch die Leere eines Gesichts ein Funken von Bösartigkeit schimmerte, blitzte dieser Funken oft nur in einem Auge auf, nicht aber in dem anderen. Vielleicht war das Gehirn an sich so geschaltet, dass es bei realen Begegnungen die widerstreitenden Merkmale zweier Augen kombinierte und ausglich und auf diese Art schwer erkennbar machte. Aber in Fotografien waren sie kaum zu übersehen.
Gurney fiel Mellerys Foto auf dem Umschlag seines Buchs ein, und er nahm sich vor, die Augen gleich nach seiner Heimkehr genauer unter die Lupe zu nehmen. Dann erinnerte er sich, dass er Sonya Reynolds zurückrufen
musste, und an Madeleines eisige Stimme, als sie die Galeristin erwähnte. Wenige Kilometer vor Peony steuerte er den Wagen auf einen unkrautüberwucherten Kiesstreifen zwischen der Straße und dem Esopus Creek. Er nahm sein Handy und wählte Sonyas Nummer. Nach vier Klingeltönen lud ihn ihre sanfte Stimme ein, eine Nachricht in beliebiger Länge zu hinterlassen.
»Sonya, hier ist Dave Gurney. Ich weiß, ich hab dir für diese Woche ein Porträt versprochen, und hoffe, dass ich es dir bis Samstag bringen oder dir zumindest eine Grafikdatei schicken kann. Es ist fast fertig, aber ich bin noch nicht ganz zufrieden.« Er hielt inne, als ihm bewusst wurde, dass seine Stimme den wärmeren Ton angenommen hatte, den attraktive Frauen oft bei ihm auslösten - eine Angewohnheit, auf die ihn Madeleine aufmerksam gemacht hatte. Er räusperte sich und fuhr fort. »Das Entscheidende bei dieser Sache ist der Charakter. Das Gesicht muss von Mord sprechen, vor allem die Augen. Daran arbeite ich, und das braucht
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