Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
mehr nach Geld denn je.
20
Ein Freund der Familie
Im Kamin, der aus Ziegeln und Steinen gemauert war, brannte ein malerisches Feuer, dessen süßer Kirschholzduft das Zimmer durchzog. Blass, aber gefasst saß Caddy Mellery neben einem gut gekleideten Mann Anfang siebzig.
Als Gurney und Hardwick eintraten, erhob sich der Unbekannte mit einer für sein Alter erstaunlichen Behändigkeit. »Guten Tag, meine Herren.« Seine Worte hatten einen vornehmen, an die Südstaaten erinnernden Klang. »Ich bin Carl Smale, ein alter Freund von Caddy.«
»Ich bin Chefermittler Hardwick, und das hier ist Dave Gurney, ein Freund des Verstorbenen.«
»Ah, ja. Caddy hat mir schon von ihm erzählt.«
»Es tut uns leid, dass wir Sie stören müssen.« Hardwicks Blick schweifte durchs Zimmer, bis er an dem kleinen Sheraton-Sekretär an der Wand gegenüber dem Kamin hängen blieb. »Aber wir brauchen Zugang zu bestimmten Papieren, die vielleicht mit dem Verbrechen in Zusammenhang stehen, und wir haben Grund zu der Annahme, dass sie sich in diesem Schreibtisch befinden. Mrs. Mellery, entschuldigen Sie bitte meine Aufdringlichkeit, aber würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich nachsehe?«
Sie schloss die Augen. Es war nicht zu erkennen, ob sie die Frage verstanden hatte.
Smale setzte sich wieder neben sie aufs Sofa und legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Ich bin sicher, dass Caddy nichts dagegen einzuwenden hat.«
Hardwick zögerte. »Sprechen Sie als… Mrs. Mellerys Bevollmächtigter?«
Smale rümpfte leicht die Nase wie eine sensible Dame nach einem ungezogenen Wort bei einer Dinnerparty.
Die Witwe öffnete die Augen und sprach mit traurigem Lächeln. »Sie begreifen sicherlich, dass dies ein schwerer Moment für mich ist. Ich verlasse mich voll und ganz auf Carl. Er kann die Situation weitaus besser beurteilen als ich.«
Hardwick ließ nicht locker. »Ist Mr. Smale Ihr Anwalt?«
Mit einer, wie Gurney vermutete, valiumgespeisten Gutmütigkeit wandte sie sich an Smale. »Er ist schon seit über dreißig Jahren mein Anwalt, mein Bevollmächtigter in guten wie in schlechten Zeiten. Mein Gott, Carl, ist das nicht furchtbar?«
Smale erwiderte ihr nostalgisches Lächeln, ehe er Hardwick in resolutem Ton ansprach. »Sie können dieses Zimmer hier gern nach Material durchsuchen, das im Zusammenhang mit Ihren Ermittlungen steht. Natürlich hätten wir gern eine Aufstellung der Dinge, die Sie mitnehmen wollen.«
Der ausdrückliche Hinweis auf »dieses Zimmer« war Gurney nicht entgangen. Smale gab der Polizei keine pauschale Durchsuchungserlaubnis. Nach dem scharfen Blick zu urteilen, mit dem er den adretten kleinen Mann auf dem Sofa bedachte, hatte auch Hardwick diese Einschränkung mitbekommen.
»Alle Beweismittel, die wir sicherstellen, werden vollständig erfasst.« Hardwicks Stimme ließ keinen Zweifel
an seiner unausgesprochenen Botschaft: »Wir geben Ihnen keine Liste von Dingen, die wir mitnehmen wollen , sondern von Dingen, die wir mitnehmen werden .«
Smale verstand unausgesprochene Botschaften offenbar sehr gut. Er lächelte. In gedehntem, trägem Ton wandte er sich an Gurney: »Sagen Sie, sind Sie der Dave Gurney?«
»Der Einzige, den meine Eltern hatten.«
»In der Tat. Ein legendärer Detective. Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«
Gurney, dem solche Anerkennung immer peinlich war, blieb stumm.
Schließlich brach Caddy Mellery das Schweigen. »Ich darf mich entschuldigen - ich habe schreckliche Kopfschmerzen und muss mich hinlegen.«
»Sie haben mein Mitgefühl«, erwiderte Hardwick. »Aber ich brauche noch Ihre Hilfe bei einigen Details.«
Besorgt musterte Smale seinen Schützling. »Hat das nicht noch ein oder zwei Stunden Zeit? Sie sehen doch, dass Mrs. Mellery leidet.«
»Meine Fragen dauern nur zwei oder drei Minuten. Glauben Sie mir, ich würde Sie gern in Ruhe lassen, aber eine Verzögerung könnte zu Problemen führen.«
»Caddy?«
»Schon gut, Carl. Ob jetzt oder später, das ist doch gleich.« Wieder schloss sie die Augen. »Fangen Sie an.«
»Tut mir leid, dass ich Sie an diese Dinge erinnern muss«, begann Hardwick. »Darf ich mich setzen?« Er deutete auf den Ohrensessel neben Caddys Sofaende.
»Bitte.« Ihre Augen blieben zu.
Vorsichtig hockte er sich auf den Polsterrand. Die Angehörigen eines jüngst Verstorbenen zu befragen war jedem Polizisten unangenehm. Hardwick machte allerdings
nicht unbedingt den Eindruck, als würde ihm diese Pflicht sehr schwerfallen.
»Ich möchte
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