Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
noch einmal etwas durchgehen, was Sie mir heute Vormittag erzählt haben; nur um ganz sicher zu sein, dass ich es richtig verstanden habe. Sie haben gesagt, dass kurz nach ein Uhr morgens das Telefon geläutet hat und dass Sie und Ihr Mann um diese Zeit schon geschlafen haben?«
»Ja.«
»Und Sie wussten, wie spät es war, weil …?«
»Ich habe auf die Uhr gesehen. Ich habe mich über den späten Anruf gewundert.«
»Und Ihr Mann ist hingegangen?«
»Ja.«
»Was hat er gesagt?«
»Hallo, hallo, hallo - drei- oder viermal. Dann hat er aufgelegt.«
»Hat er Ihnen erzählt, was der Anrufer gesagt hat?«
»Nein.«
»Und ein paar Minuten später haben Sie draußen im Wald ein Tier schreien hören?«
»Kreischen.«
»Kreischen?«
»Ja.«
»Welcher Unterschied besteht für Sie zwischen Kreischen und Schreien?«
»Schreien …« Sie stockte und biss sich auf die Unterlippe.
»Mrs. Mellery?«
Smale schaltete sich ein. »Brauchen Sie noch lange?«
»Ich muss nur wissen, was sie gehört hat.«
»Schreien ist eher menschlich. Ich habe geschrien, als ich …« Sie blinzelte, als hätte sie etwas im Auge, dann
fuhr sie fort. »Das war irgendein Tier. Aber nicht im Wald. Sondern nah beim Haus.«
»Wie lang hat das Schreien - Kreischen - gedauert?«
»Eine Minute oder zwei, ich bin mir nicht sicher. Nachdem Mark nach unten gegangen war, hat es aufgehört.«
»Hat er gesagt, was er vorhat?«
»Er wollte nachsehen, was es ist. Das ist alles. Er wollte nur …« Sie verstummte und fing an, langsam und tief zu atmen.
»Tut mir leid, Mrs. Mellery. Ich bin gleich fertig.«
»Er wollte nur nachsehen, was es ist, das ist alles.«
»Haben Sie noch irgendwas anderes gehört?«
Sie legte die Hand über den Mund und drückte sie auf Wangen und Kiefer, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Ihr Griff war so fest, dass unter ihren Fingernägeln rote und weiße Flecken erschienen. Als sie weiterredete, drangen die Worte gedämpft durch ihre Hand.
»Ich habe noch halb geschlafen, aber ich habe was gehört, eine Art Klatschen - als hätte jemand in die Hände geklatscht. Mehr weiß ich nicht.« Noch immer hielt sie ihr Gesicht fest, als wäre der Druck ihr einziger Trost.
»Vielen Dank.« Hardwick erhob sich aus dem Ohrensessel. »Wir werden uns bemühen, Sie so wenig wie möglich zu behelligen. Im Moment muss ich nur den Schreibtisch durchsuchen.«
Caddy Mellery nahm den Kopf hoch und öffnete die Augen. Die Hand sank auf ihren Schoß und hinterließ bleiche Abdrücke auf ihren Wangen. »Detective«, sagte sie mit schwacher, aber entschlossener Stimme, »Sie können alles mitnehmen, was Ihnen relevant erscheint. Aber respektieren Sie bitte unsere Privatsphäre. Die Presse ist unverantwortlich. Das Vermächtnis meines Mannes darf keinen Schaden leiden.«
21
Prioritäten
»Wenn wir uns in diese Gedichte verrennen, jagen wir im ganzen nächsten Jahr nur unserem eigenen Arsch hinterher.« Hardwick spuckte das Wort ›Gedichte‹ aus, als würde sich dahinter Schmutz der abstoßendsten Sorte verbergen.
Auf einem großen Tisch mitten im Tagungsraum des Instituts, den das BCI-Team als Zentrale für die intensive Startphase der Ermittlungen in Besitz genommen hatte, lagen sämtliche Botschaften des Mörders aufgereiht.
Der erste, zweiteilige Brief von »X. Arybdis«, der auf unheimliche Weise vorhersagte, dass sich Mellery die Zahl sechshundertachtundfünfzig denken würde, und 289,87 Dollar als Entschädigung für die Kosten der Suche nach ihm forderte. Die drei zunehmend bedrohlichen Gedichte, die danach mit der Post eingetroffen waren. (Das dritte hatte Mellery in eine kleine Plastiktüte gesteckt, damit es gegebenenfalls auf Fingerabdrücke untersucht werden konnte.) Dann folgten Mellerys zurückgesandter Scheck über 289,87 Dollar zusammen mit der Notiz von Gregory Dermott, dass es unter dieser Adresse keinen »X. Arybdis« gab; das Gedicht, das der Mörder Mellerys Assistentin diktiert hatte; eine Bandkassette mit der Aufzeichnung des Gesprächs mit dem Mörder später am Abend, bei dem Mellery die Zahl neunzehn genannt
hatte; der Brief aus dem Briefkasten des Instituts, der voraussagte, dass Mellery sich für genau diese Zahl entscheiden würde; und schließlich das Gedicht, das auf der Leiche entdeckt worden war. Eine geradezu erstaunliche Fülle an Beweismaterial.
»Weißt du was über diese Plastiktüte?« Seinem Tonfall nach hatte Hardwick für Plastik genauso wenig übrig wie für Gedichte.
»Zu diesem
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