Die Hassliste: Roman (German Edition)
wir zwei uns so gut verstehen, Val?«, fragte er mich nach einer Weile. »Weil wir gleich denken. Als hätten wir dasselbe Gehirn. Cool ist das.«
Ich streckte mich und schlang mein Bein um seines. »Ja, echt wahr«, sagte ich. »Scheiß auf unsere Eltern. Scheiß auf ihre gottverdammten Streitereien. Scheiß auf die ganze Welt. Das kann uns doch alles am Arsch vorbeigehen, oder?«
»Stimmt«, sagte er und kratzte sich an der Schulter. »Ich hab ja total lange gedacht, dass nie irgendwer kapieren würde, wie ich wirklich bin. Aber du tust das.«
»Klar.« Ich drehte meinen Kopf und küsste seine Schulter. »Und du weißt, wie ich bin. Fast ein bisschen unheimlich, diese Ähnlichkeit zwischen uns, oder?«
»Unheimlich gut.«
»Genau, unheimlich gut.«
Er drehte sich und stützte sich auf den Ellbogen, damit er mir direkt ins Gesicht sehen konnte. »Es ist so gut, dass wir zwei uns haben«, sagte er. »Weißt du, sogar wenn die ganze Welt gegen dich ist und dich hasst, ist da immer jemand, auf den du dich verlassen kannst. Wir zwei gegen die ganze Welt, nur wir zwei.«
Damals kreisten meine Gedanken nur um die endlosen Streitereien meiner Eltern, daher dachte ich, dass es in unserem Gespräch hauptsächlich um sie ging. Nick wusste ganz genau, was ich gerade durchmachte – er nannte seinen Stiefvater Charles einen »Lebensabschnitts-Stiefvater« und redete über das unberechenbare Liebesleben seiner Mutter, als wäre es ein großer Witz. Ich war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, er könnte tatsächlich uns gegen … die ganze Welt meinen. »Ja. Nur wir zwei«, hatte ich geantwortet. »Nur wir zwei.«
Jetzt starrte ich auf den Teppichboden von Mrs Tates Büro und wie aus dem Nichts packte mich wieder dieses Gefühl, ich hätte Nick überhaupt nicht gekannt. Dieses ganze Gerede von Seelenverwandtschaft wäre komplett schwachsinnig gewesen. In Menschenkenntnis verdiente ich eine glatte Sechs. Auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals. Was war das bloß für ein selbstmitleidiger Quatsch? Die verhasste Außenseiterin heult über ihren Freund, den Mörder. Ich fand mich selbst widerlich und versuchte, den Kloß wegzuschlucken.
Mrs Tate hatte sich im Stuhl zurückgelehnt, redete aberimmer noch. »Valerie, für dich hat es immer eine Zukunft gegeben. Du kannst dir aussuchen, auf welches College du willst. Du hast gute Noten. Nick dagegen hat nie eine Zukunft gehabt. Nicks Zukunft war … das hier.«
Jetzt löste sich doch eine Träne. Ich schluckte und schluckte, aber es nutzte nichts. Was wusste Mrs Tate schon von Nicks Zukunft? Keiner kann die Zukunft vorhersagen. Wenn ich hätte vorhersehen können, was passiert, hätte ich es verdammt noch mal verhindert. Aber das habe ich nicht. Ich konnte es nicht. Ich hätte es aber tun müssen. Das machte mich total fertig. Ich hätte es verhindern müssen. Darum war es jetzt vorbei mit meiner Zukunft am College. Meine Zukunft lag darin, für die ganze Welt das Mädchen zu sein, das alle hasst. So haben mich die Zeitungen genannt: das Mädchen, das alle hasst.
Ich hätte Mrs Tate gern alles erzählt. Aber es war so verdammt kompliziert und beim Nachdenken darüber begann mein Bein zu pochen und das Herz tat mir weh. Ich stand auf und streifte meinen Rucksack über. Mit dem Handrücken fuhr ich mir übers Gesicht. »Ich mach mich mal besser auf den Weg«, sagte ich. »Ich will nicht gleich am ersten Tag zu spät zum Unterricht kommen. Was das College angeht … ich überleg’s mir, okay?«
Mrs Tate seufzte und erhob sich. Sie schob den Aktenschrank richtig zu, kam jedoch nicht hinter ihrem Schreibtisch vor.
»Valerie«, setzte sie an, unterbrach sich dann aber, anscheinend um nachzudenken. »Sieh einfach zu, dass du den Tag gut überstehst, ja? Ich bin froh, dass du wieder da bist. Und die Bewerbungsunterlagen hebe ich für dich auf.«
Ich ging Richtung Tür, wandte mich aber noch mal um, bevor ich sie öffnete.
»Mrs Tate? Hat sich was geändert?«, fragte ich. »Ich meine, sind die Leute jetzt irgendwie anders?« Ich wusste nicht, welche Antwort ich hören wollte. Ja, alle haben gelernt aus der Sache und jetzt sind wir eine große, glückliche Familie, genau wie es in der Zeitung steht. Oder: Hier ist nie einer gemobbt worden. Das hast du dir nur eingebildet, damit haben die Leute schon recht. Nick war verrückt und du bist drauf reingefallen, das war auch schon alles. Deine Wut hatte keinen Grund. Egal wie wütend du warst, es war alles nur in deinem
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