Die Hassliste: Roman (German Edition)
weggeschickt, Meghan. Und ich bin mir ganz sicher, Mrs Tate hat gemeint, ihr könntet in ihr Büro kommen, wenn ihr über diese Dinge –«
»Nein«, sagte eine laute Stimme hinter mir. Sie klang wie die von Alex Gold, aber ich war wie festgefroren und konnte mich nicht umdrehen, um nachzusehen. Meine Nägel gruben sich immer tiefer in meine Handflächen und hinterließen dort schmerzende rote Halbmonde. »Nein. Die Schule hat doch extra diesen Trauma-Menschen hergeholt und der hat uns gesagt, wir sollen reden,wann immer wir’s brauchen.
Ich
brauch’s allerdings nicht, für mich ist das so was von vorbei.«
Meghan verdrehte die Augen und richtete ihren hasserfüllten Blick von meinem Gesicht weg auf eine Stelle direkt über meiner Schulter. »Schön für dich. Dir hat auch keiner das Gesicht weggeschossen.«
»Liegt vielleicht daran, dass ich Nick Levil nie was getan hab.«
»In Ordnung, das reicht jetzt«, rief Mrs Tennille, aber das Gespräch war inzwischen komplett aus dem Ruder gelaufen. »Wir sollten jetzt zum eigentlichen Thema zurückkehren …«
»Dir aber auch nicht, Meghan«, sagte Susan Crayson, die rechts von Meghan saß. »Dein Gesicht hat auch keiner weggeschossen. Du warst vor dem Amoklauf nicht mal mit Ginny befreundet. Du bist doch bloß heiß auf das Drama.«
An dieser Stelle brach die Hölle los. Alle redeten durcheinander, einer lauter als der andere, und es war fast unmöglich mitzukriegen, wer was sagte.
»… etwa kein Drama? Meine Freundin ist gestorben …«
»… hat Valerie keinen erschossen. Nick hat das für sie gemacht. Und Nick ist tot, also, was soll’s?«
»Mrs Tate hat gesagt, streiten bringt uns …«
»… schlimm genug, dass ich dauernd Albträume hab, aber in die Schule zu kommen und …«
»… hätte gut gefunden, was Ginny passiert ist, weil das so schön dramatisch war? Willst du das ernsthaft behaupten?«
»… alle netter zu Nick gewesen wären, wär das vielleichtalles gar nicht passiert. Eigentlich geht’s hier doch …«
»Wenn du mich fragst, der hat’s verdient zu sterben. Ich bin froh, dass er weg ist …«
»… hast du von Freundschaft sowieso keine Ahnung, du Loser …«
Es war ziemlich verrückt: Am Ende waren sie alle so beschäftigt damit, sich gegenseitig zu hassen, dass ich total in Vergessenheit geriet. Keiner sah mich mehr an. Mrs Tennille war hinter ihrem Pult auf dem Stuhl zusammengesunken und starrte schweigend aus dem Fenster. Mit den Fingern fummelte sie an ihrem Kragen herum und ihr Kinn zitterte leicht.
Das waren also die Schüler, die angeblich Hand in Hand in der Cafeteria saßen und jeden Tag alle zusammen
Give peace a chance
sangen. In Wirklichkeit gingen sie sich gegenseitig an die Kehle, egal was im Fernsehen behauptet wurde. Die alten Feindseligkeiten, die alten Witze, all die miesen Gefühle waren noch da. Auch die besten Chirurgen der Welt und Unmengen zerknäulter Papiertaschentücher konnten nicht ändern, dass Eiter aus den alten Wunden floss.
Irgendwann entspannte ich mich ein bisschen und brachte es fertig, mich umzusehen, mir wirklich einfach alles genau anzuschauen: all die Leute, die herumbrüllten und mit den Armen fuchtelten. Ein paar von ihnen weinten, andere lachten.
Ich fand, ich hätte etwas sagen sollen, aber ich wusste nicht, was. Noch mal klarzustellen, dass ich auf niemanden geschossen hatte, würde klingen, als wollte ich mich verteidigen. Irgendwen trösten zu wollen wäre einfachnur daneben. In dieser Situation irgendwas zu tun, egal was, überforderte mich total. Ich war nicht bereit für all das hier – dass ich geglaubt hatte, es zu sein, machte mich fassungslos. Ich hatte nicht mal Antworten auf meine eigenen Fragen, was sollte ich da auf die von den andern sagen? Unwillkürlich suchte meine Hand nach dem Mobiltelefon in meiner Tasche. Vielleicht sollte ich Mom anrufen. Sie bitten, dass ich nach Hause dürfte. Dass ich nie mehr hierher zurückmüsste. Oder Dr. Hieler anrufen und ihm sagen, dass er sich zum ersten Mal geirrt hatte. Ich hielt nicht mal dreiundachtzig Minuten durch, geschweige denn dreiundachtzig Tage.
Doch schließlich bekam Mrs Tennille die Klasse wieder in den Griff. Auch wenn die aufgeheizte Stimmung wie eine wabernde Wolke über unseren Köpfen hängen blieb, hörten wir wieder zu, wie sie sich über den Lehrplan ausließ. So langsam vergaßen die Leute meine Anwesenheit und nach und nach bekam ich das Gefühl, es wäre vielleicht
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