Die Hassliste: Roman (German Edition)
Schüler benutzte. Er weinte. Rotz lief ihm aus der Nase, ein Zittern schüttelte ihn. Er hatte seine Arme auf beiden Seiten ausgestreckt, wie Jesus, sah Nick direkt an und schüttelte den Kopf, unbeugsam und zugleich voller Angst.
Ich hatte Kline gemocht. Alle hatten Kline gemocht. Kline war der Typ von Lehrer, der auf Abschlusspartys kam. Der stehen blieb und mit einem quatschte, wenn man ihn im Einkaufszentrum traf, und zwar nicht in so einem dämlichen Tonfall wie Mr Angerson. Er sagte eher so was wie: »Hallo, wie läuft’s? Alles klar bei dir?« Falls er mitbekam, wie einer der jüngeren Schüler in einem Lokal Alkohol trank, würde er immer so tun, als hätte er nichts gesehen. Kline war bereit, sein Leben zu geben für seine Schüler. Wir hatten das schon immer gewusst. Jetzt wusste es die ganze Welt.
Der ausführlichen Fernsehberichterstattung und den nervigen Artikeln von Angela Dash in der
Sun-Tribune
war es zu verdanken, dass inzwischen praktisch jeder wusste, warum Mr Kline sterben musste – weil er Nick nicht sagen wollte, wo Mrs Tennille war. Auch Mrs Tennille selbst konnte das also nicht verborgen geblieben sein. Wahrscheinlich guckte sie mich deshalb so an, als schleppte ich eine tödliche Krankheit in ihr Klassenzimmer ein.
Ich wandte mich von ihr ab und schlurfte zu einem freien Stuhl hinüber. Dabei bemühte ich mich, meine Augen auf nichts als den Stuhl zu richten, aber das war unmöglich. Ich schluckte. Meine Kehle war zu eng. Meine Hände schwitzten so heftig, dass mir mein Notizbuch beinahe heruntergefallen wäre. In meinem Bein klopftees. Ich merkte, wie ich humpelte, und verfluchte mich dafür.
Schließlich sank ich hinter dem Tisch zusammen und blickte Mrs Tennille an. Sie starrte zurück und wartete, bis ich mich an meinem Platz eingerichtet hatte, dann wandte sie sich wieder zur Tafel um, räusperte sich und schrieb den Rest ihrer Mailadresse an.
Langsam drehten sich auch die Köpfe meiner Mitschüler wieder nach vorne und mein Atem setzte wieder ein.
Dreiundachtzig
, sagte ich mir vor.
Zweiundachtig, wenn ich heute nicht mitzähle.
Während Mrs Tennille erklärte, wie sie am besten zu erreichen war, konzentrierte ich mich auf meine Hände und versuchte, ruhig zu atmen, so wie Dr. Hieler es mir beigebracht hatte. Ich betrachtete meine Fingernägel, die brüchig und hässlich waren. Ich hatte einfach nie die Kraft gehabt, sie in Form zu feilen, und seltsamerweise schämte ich mich jetzt dafür. Die anderen Mädchen hatten sich vorbereitet auf den ersten Schultag, hatten ihre Nägel lackiert und ihre schicksten Klamotten angezogen. Ich dagegen hatte mich nicht mal richtig gewaschen. Noch eine Art, anders zu sein, als ich es früher gewesen war.
Ich verbarg meine Fingernägel in den Handflächen. Eigentlich wollte ich nur vermeiden, dass jemand merkte, wie scheußlich sie aussahen, aber dann fiel mir auf, wie beruhigend es war, wenn sie sich in meine Handflächen bohrten. Also legte ich die Hände in den Schoß und presste sie zu Fäusten zusammen, mit immer mehr Druck, sodass die Nägel tief in mein Fleisch sanken – bis ich endlich Luft holen konnte, ohne dass mich bei jedem Atemzug eine Welle von Übelkeit überrollte.
»Wenn ihr eine Frage habt, schreibt mir einfach eine E-Mail «, erklärte Mrs Tennille gerade und deutete auf die Tafel, doch dann unterbrach sie sich plötzlich.
Links von mir war Unruhe entstanden. Leute raschelten herum und ein Mädchen stopfte hektisch Bücher und Papiere in ihren Rucksack. Tränen strömten über ihr Gesicht und sie kämpfte vergeblich gegen ihren Schluckauf an.
Ein paar andere Mädchen kümmerten sich um sie, streichelten ihr den Rücken und redeten auf sie ein.
»Was ist denn los?«, fragte Mrs Tennille. »Kelsey? Meghan? Warum seid ihr nicht auf euren Plätzen?«
»Wegen Ginny«, antwortete Meghan und deutete auf das weinende Mädchen. Erst jetzt kapierte ich, dass es Ginny Baker war. In den Nachrichten hatte ich gehört, dass sie jede Menge plastische Operationen über sich ergehen lassen musste, aber bis jetzt war mir nicht klar gewesen, wie sehr sich ihr Gesicht dadurch verändert hatte.
Mrs Tennille legte den Schwammwischer auf die Ablage unter der Tafel und verschränkte still und entschieden die Arme. »Ginny?«, sagte sie derart sanft, dass ich zuerst kaum begriff, von wem diese Stimme kam. »Kann ich dir irgendwie helfen? Willst du dir vielleicht was zum Trinken holen?«
Ginny zog den Reißverschluss an ihrem Rucksack zu
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