Die Hassliste: Roman (German Edition)
wir an die Eingangstür kamen, ließ Nick meine Schultern los. Genau in diesem Moment fegte ein Windstoß heran und fuhr unter mein Shirt, das sich aufblähte. Plötzlich war mein Rücken ganz kalt und ich zitterte.
Nick hielt mir die Tür auf und ließ mich durchgehen.
»Lass uns das hier durchziehen«, sagte er. Ich nickte und riss auf dem Weg zur Cafeteria die Augen weit nach Christy Bruter auf, mit klappernden Zähnen.
[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Jeff Hicks, 15 – Als Schüler der Anfangsklasse hätte Hicks nach Ansicht seiner Mitschüler die Cafeteria normalerweise nicht betreten. »Morgens lassen wir uns da nicht blicken, wenn wir’s irgendwie vermeiden können«, sagte seine Klassenkameradin Marcie Stindler der Presse. »Die älteren Schüler machen uns fertig, wenn wir da auftauchen. Es gibt so eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass unsere Jahrgangsstufe in der Cafeteria nichts zu suchen hat, außer in der Mittagspause. Jeder, der hier anfängt, weiß das.«
Aber am Morgen des 2. Mai hatte sich Jeff Hicks verspätet und trotz dieser Regel den Weg durch die Cafeteria als Abkürzung gewählt, um schneller zum Unterricht zu kommen – er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, wie manche meinen. Ein Schuss traf ihn hinten am Kopf, er war sofort tot. Nach Aussagen der Ermittlungsbehörden ist ungeklärt, ob Levil Hicks kannte oder ob Hicks von einer Kugel getroffen wurde, die jemand anderem galt.
***
Weil Mrs Tate mich so lange aufgehalten hatte, verpasste ich den Anfang der ersten Stunde und kam erst ins Klassenzimmer, als Mrs Tennille ihre große Rede zum Schulanfang hielt. Mrs Tate hatte mir ersparen wollen, dass ich mich allein durch die vollen Gänge vor Unterrichtsbeginn schlagen musste, das war mir klar, aber es wäre mir fast noch lieber gewesen als die Blicke, die sich in mich bohrten, als ich jetzt das Klassenzimmer betrat. In den Gängen hätte ich mich wenigstens im Schatten halten können.
Als ich die Tür öffnete, hörte buchstäblich jeder in der Klasse auf mit dem, was er gerade tat, und glotzte mich an. Billy Jenkins ließ seinen Bleistift los, der daraufhin über den Tisch kullerte und zu Boden fiel. Mandy Horn riss den Mund derart weit auf, dass ich mir einbildete zu hören, wie ihr Kiefer knackte. Sogar Mrs Tennille unterbrach sich und verharrte ein paar Sekunden lang völlig regungslos.
Ich stand an der Tür und überlegte, ob es wohl auffallen würde, wenn ich mich einfach umdrehte und wegging. Raus aus diesem Klassenzimmer. Raus aus der Schule. Zurück nach Hause in mein Bett. Ich würde Mom und Dr. Hieler sagen, dass ich mich getäuscht hatte und für mein letztes Schuljahr doch einen Privatlehrer haben wollte. Dass ich nicht so stark war, wie ich geglaubt hatte.
Mrs Tennille räusperte sich und legte den Stift weg, mit dem sie gerade etwas ans Whiteboard hatte schreiben wollen. Ich atmete tief durch, schlappte zu ihrem Tisch und hielt ihr die Entschuldigung hin, die mir Mrs Tates Sekretärin wegen meiner Verspätung geschrieben hatte.
»Wir sprechen gerade den Lehrplan für dieses Schuljahr durch«, erklärte Mrs Tennille und nahm den Entschuldigungszettel. Ihr Gesicht war wie aus Stein. »Such dir einen Platz. Falls du zu dem, was du versäumt hast, noch etwas wissen willst, komm nach der Stunde zu mir.«
Ich starrte sie an, einen Augenblick länger als nötig. Mrs Tennille hatte mich noch nie sonderlich gut leiden können. Sie kam nicht damit klar, dass ich bei Experimenten nicht mitmachte, und sie hatte auch nie verkraftet, dass Nick in ihrem Unterricht einmal ein Glasröhrchen in Brand gesetzt hatte, »rein aus Versehen«. Unzählige Male hatte sie Nick zum Nachsitzen verdonnert, und wenn ich nach Schulschluss draußen vor der Tür auf ihn wartete, hatte sie mir jedes Mal vernichtende Blicke zugeworfen.
Mit welchen Gefühlen sie mir jetzt entgegentrat, mochte ich mir kaum vorstellen. Mitleid vielleicht, weil ich die Wahrheit über Nick nicht gesehen hatte, die ihr schon lange klar gewesen war? Vielleicht würde sie mich gern durchschütteln und mich anschreien: »Du dumme Göre, ich hab’s dir doch immer gesagt!« Es konnte aber auch sein, dass sie mich zutiefst verabscheute wegen dem, was Mr Kline passiert war.
Vielleicht spielte sie diese Szene immer wieder im Kopf durch, so wie ich, millionenmal am Tag: Wie Mr Kline,der Chemielehrer, seinen Körper buchstäblich als Schutzschild für über zehn
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