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Die Hassliste: Roman (German Edition)

Die Hassliste: Roman (German Edition)

Titel: Die Hassliste: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Brown
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um mich zu machen; sie erinnerten sich überhaupt nicht daran, dass sie noch ein Kind hatten, um das sie sich Sorgen machen könnten. Ich wusste nicht, ob ich Frankie beneiden sollte oder ob er einem nicht eher leidtun musste. Vielleicht beides.
    Plötzlich fühlte ich mich wieder ganz schwach. Ich ließ das Glas und den Teller in den Abfalleimer fallen und warf mich auf mein Bett. Ich griff in meinen Rucksack, kramte mein Notizheft hervor und schlug es auf. Während ich die Bilder betrachtete, die ich im Lauf des Tages gezeichnet hatte, kaute ich auf meiner Lippe herum.
    Ich rollte mich auf die Seite, machte Musik an und drehte sie voll auf. In ein paar Minuten kam garantiert Mom angeschossen und brüllte durch die geschlossene Tür, ich sollte gefälligst leiser stellen. Aber sie hatte mir sowieso schon alle Musik abgeknöpft, die irgendwie »heikel« sein könnte – alles, wovon sie und Dad und vielleicht auch Dr.   Hieler und sämtliche alten Säcke in der Welt dachten, es könnte mich auf die Idee bringen, mir in der Badewanne die Pulsadern aufzuschlitzen. Was mich immer noch stinkwütend machte, denn ich hatte mir diese Sachen fast alle von meinem eigenen Geld gekauft. Also drehte ich die Musik so laut, dass ich Mom nicht mal hören würde, wenn sie hochkam. Dann konnte sie gegen die Tür hämmern, so viel sie wollte. Sie hätte früher die Schnauze voll von ihrem Gehämmer als ich.
    Ich griff wieder in meinen Rucksack und holte einen Bleistift raus. Eine Weile lang kaute ich oben auf dem Radiergummi herum und betrachtete das Bild, das ich von Mrs Tennille zu zeichnen begonnen hatte. Sie wirkte so traurig. Schon komisch – es war noch gar nicht lange her, da hätte ich ihr jede Traurigkeit der Welt an den Hals gewünscht. Ich hatte sie nicht ausstehen können. Aber heute war es mir richtig schlecht gegangen, als ich gemerkt hatte, wie traurig sie war. Ich fühlte mich verantwortlich. Ich wollte sie lächeln sehen und fragte mich, ob sie wohl lächelte, wenn sie nach Hause zu ihren Kindern kam. Oder ob sie sich bloß mit einem Wodka in ihren Fernsehsessel legte und trank, bis sie die Schüsse in der Cafeteria nicht mehr hörte.
    Ich beugte den Kopf vor und begann zu zeichnen – und ich zeichnete sie, wie sie beides auf einmal tat: wie ihr Körper einen kleinen Jungen ganz einhüllte, der dort geborgen wie eine Erdnuss in der Schale lag, während sich ihre Hand um eine Flasche Wodka klammerte wie Efeu um eine Weinrebe.

ZWEITER TEIL
     
     

 
    2.   Mai 2008
    18:36   Uhr
    »Was hast du gemacht?«

     

 
    Als ich die Augen wieder aufschlug, war ich überrascht, nicht noch schlafend in meinem eigenen Bett zu liegen und mit der Aussicht auf einen weiteren Tag in der Schule wach zu werden. So hätte es eigentlich sein sollen: Nick würde gleich anrufen, ich würde mich bereit machen für einen Schultag, von dem ich jede Sekunde hasste, wäre besorgt, was zum Teufel Nick und Jeremy am Blue Lake trieben, würde mich quälen mit der Angst, dass Nick womöglich mit mir Schluss machen wollte, und im Bus würde Christy Bruter auf mir herumhacken wie jeden Tag. Die Erinnerungsfetzen an Nick, der ein Blutbad in der Cafeteria angerichtet hatte, würden nach dem Aufwachen bald verblassen, sodass ich gar keine Gelegenheit hätte, die Bilder in meinem langsam zu sich kommenden Bewusstsein lebendig werden zu lassen.
    Doch ich wachte im Krankenhaus auf. Polizeibeamte waren im Zimmer, der Fernseher lief und zeigte einen Ort, an dem offenbar ein Verbrechen passiert war. Die Polizisten hatten mir den Rücken zugekehrt und schautenhoch zum Bildschirm. Auch ich blinzelte jetzt zum Fernseher hin, wo in raschem Wechsel Bilder von einem Parkplatz, einem Backsteingebäude, einem Footballfeld aufflimmerten, die mir alle vage vertraut vorkamen. Ich schloss die Augen wieder. Ich fühlte mich benommen. Meine Augen waren total trocken, in meinem Bein pochte es und so langsam begann ich mich zu erinnern. Nicht an Einzelheiten, sondern nur daran, dass etwas wirklich Schlimmes passiert war.
    »Sie wacht auf«, hörte ich jemanden sagen. Ich erkannte die Stimme, es war die von Frankie, allerdings hatte ich ihn nicht wahrgenommen, als ich eben die Augen geöffnet hatte, und jetzt erschien es mir leichter, mir nur vorzustellen, dass er neben dem Bett stand – ich mochte mich nicht extra anstrengen, um ihn zu sehen. Also ließ ich mich hinübergleiten in eine eingebildete Welt, in der Frankie da war und sagte: »Sie wacht auf«, was er ja

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