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Die Hassliste: Roman (German Edition)

Die Hassliste: Roman (German Edition)

Titel: Die Hassliste: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Brown
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blickte sie über ihre Schulter zu einem der Polizisten, der sich vom Fernseher abgewandt hatte und auf mich herunterglotzte, die Daumen in seinen Gürtel eingehakt.
    »Auf dich wurde geschossen«, sagte der Polizist nüchtern über Moms Schulter hinweg und ich merkte, wie Mom bei diesem Satz zusammenzuckte, obwohl sie ihn ansah und nicht mich. »Nick Levil hat auf dich geschossen.«
    Ich runzelte die Stirn. Nick Levil hat auf mich geschossen. »Aber so heißt doch mein Freund«, sagte ich. Erst später wurde mir klar, wie dumm dieser Satz klang, und im Nachhinein war er mir ein bisschen peinlich. Aber in diesem Moment ergab einfach nichts einen Sinn – hauptsächlich deshalb, weil ich das alles noch nicht sortiert hatte, oder vielleicht auch, weil mir die Narkose noch in den Knochen steckte. Es ist aber auch möglich, dass mein Gehirn einfach nicht zuließ, dass ich mich gleich an alles auf einmal erinnerte. Ich habe mal einen Fernsehbeitrag darüber gesehen, was das Gehirn tut, um sich selbst zu schützen. Zum Beispiel spalten sich missbrauchte Kindermanchmal in mehrere Persönlichkeiten auf und solche Sachen. Das muss es gewesen sein, was mein Gehirn in diesem Moment tat: Es hat mich beschützt. Allerdings hat es das nicht sonderlich lange getan. Nicht lange genug jedenfalls.
    Der Polizeibeamte nickte, als wüsste er das schon und wollte mir signalisieren, dass das nichts Neues für ihn war, und Mom drehte sich wieder in meine Richtung, starrte aber nach unten auf die Bettdecke. Ich musterte die Gesichter um mich herum – da waren Mom, der Polizist, die Krankenschwester, Frankie, sogar Dad (ich hatte nicht mitgekriegt, wie er zurück ins Zimmer gekommen war, aber er war jedenfalls da, stand mit verschränkten Armen am Fenster)   –, doch keiner von ihnen sah mich direkt an. Ein schlechtes Zeichen.
    »Was ist los?«, fragte ich. »Frankie?«
    Frankie sagte gar nichts. Er presste nur den Kiefer zusammen, wie er es immer tat, wenn er richtig angefressen war, und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht lief knallrot an.
    »Valerie, erinnerst du dich an irgendwas von dem, was heute in der Schule passiert ist?«, fragte Mom leise. Leise war das richtige Wort dafür – nicht etwa behutsam oder sacht, denn ihre Stimme klang kein bisschen mütterlich dabei. Sie richtete ihre Frage quasi an das Bettzeug und sprach so tonlos und matt, dass ich ihre Stimme kaum wiedererkannte.
    »In der Schule?«
    Und dann brach alles über mich herein. Das war komisch, denn als ich langsam wach geworden war, hatte sich das, was in der Schule passiert war, wie ein Traum angefühlt,darum dachte ich jetzt: Nein, das können sie nicht meinen, das war doch bloß irgendein grässlicher Traum. Aber innerhalb von Sekunden breitete sich die Erkenntnis in mir aus, dass es kein Traum gewesen war, und ich wurde überrollt von der Wucht der Bilder.
    »Valerie, in der Schule ist heute etwas sehr Schlimmes passiert. Erinnerst du dich daran?«, fragte Mom wieder.
    Ich konnte ihr keine Antwort geben. Ich konnte keinem eine Antwort geben. Ich konnte nichts sagen. Ich starrte nur auf den Fernsehbildschirm, auf die Luftaufnahme von unserer Schule mit lauter Rettungswagen und Polizeiautos drum herum. Starrte das Bild an, bis ich buchstäblich die einzelnen kleinen Farbquadrate sehen konnte, aus denen es sich zusammensetzte. Moms Stimme war weit weg, ich hörte sie zwar, aber es kam mir nicht so vor, als ob sie wirklich mit mir redete. Sie war nicht in meiner Welt. Nicht unter dieser Lawine von Grauen, die mich begrub. Hier war ich ganz allein.
    »Valerie, ich rede mit dir. Schwester, ist sie okay? Valerie? Hörst du mich? Himmel noch mal, Ted, tu doch irgendwas!«
    Dann die Stimme meines Vaters: »Was erwartest du von mir, Jenny? Was kann ich denn tun?«
    »Jedenfalls mehr, als einfach nur rumzustehen! Das ist deine Familie, Ted, deine Tochter, verdammt noch mal! Valerie, sag doch was. Val!«
    Aber ich konnte meine Augen nicht von dem Bildschirm lösen, den ich zugleich genau wahrnahm und doch nicht sah.
    Nick. Er hat Leute erschossen. Er hat Christy Bruter erschossen. Mr Kline. Gott, er hat sie erschossen. Er hatdas wirklich getan. Ich habe es gesehen, er hat sie erschossen. Er hat   …
    Ich griff nach unten und berührte den Verband um meinen Oberschenkel. Und dann fing ich an zu weinen. Ich heulte nicht lauthals los oder so, es war eher ein Weinen, bei dem einem die Schultern beben und sich die Lippen leicht nach außen biegen – das hässliche Weinen, wie

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