Die Hassliste: Roman (German Edition)
wehren. Es gab nur noch die Tränen, die mir das Gesichtverschmierten und an meinem Hals zusammenliefen. Auch Mom weinte, was mir Genugtuung verschaffte, aber bei Weitem zu wenig.
»Mom«, flüsterte ich, als die Pfleger mich an ihr vorbeirollten. »Bitte, tu das nicht. Lass das nicht zu …« Sie antwortete nicht. Zumindest nicht mit Worten.
Sie schoben mich den Korridor entlang Richtung Aufzug. Den ganzen Weg über schrie und bettelte ich und wiederholte immer wieder: »Ich hab’s nicht getan … Ich hab’s nicht getan …« Doch Dr. Dentley war verschwunden, da waren nur noch die beiden Pfleger und die kofferschleppende Krankenschwester, und die taten, als würden sie mich gar nicht hören.
Wir kamen an eine Stelle, an der sich zwei Korridore kreuzten; dort hing ein Schild mit einem Pfeil und der Aufschrift
Aufzüge
. Unmittelbar bevor wir abbogen, kamen wir an einem Zimmer vorbei – und an einem Gesicht, das ich kannte.
Angeblich sollen Nahtod-Erfahrungen Leute ja verändern. Man sagt, sie würden plötzlich entdecken, wofür Toleranz und Liebe gut sind, und würden ihre Kleinlichkeit und ihren Hass ablegen.
Doch als mich die Pfleger an Christy Bruters Zimmer vorbei auf die Aufzüge zuschoben, sah ich sie mit leicht erhöhtem Oberkörper in ihrem Bett liegen und mich anstarren. Ihre Eltern standen bei ihr am Bett und neben ihnen noch eine jüngere Frau, die einen kleinen Jungen auf dem Arm trug.
»Ich hab’s nicht getan … ich hab’s nicht …«, wiederholte ich weinend.
Ihre Eltern starrten mich mit müdem Blick an. UndChristy betrachtete mich mit dem Anflug eines ironischen Lächelns. Es war haargenau das Lächeln, das ich im Bus so oft gesehen hatte. Völlig unverändert.
Die Pfleger bogen um die Ecke und ich konnte nicht mehr in Christys Zimmer gucken. »Tut mir leid«, flüsterte ich. Aber ich glaube nicht, dass sie mich hörte.
Doch ich fragte mich, ob Stacey es wohl irgendwie wahrnahm.
Später habe ich mich oft gefragt, wie ich die zehn Tage in der geschlossenen Psychiatrie überlebt habe. Wie ich es vom Bett zum Klo schaffte. Und vom Klo in die Gruppentherapie. Wie ich es überstand, diese hohen, kreischenden Stimmen zu hören, die nachts irgendwelches absurdes Zeug riefen. Wie ich das Gefühl ertragen habe, dass mein Leben in widerwärtige Tiefen abgerutscht war – an einem Morgen kam ein Aushilfspfleger in mein Zimmer und flüsterte mir zu, wenn ich Stoff bräuchte, könnte er das »wohl irgendwie arrangieren«, wobei er vorn an seiner Krankenhaushose herumzupfte.
Ich konnte mich nicht mal mehr zurückziehen an diesen stillen Ort in mir selbst, der bisher meine Zuflucht gewesen war. Wenn ich schwieg, würde Dr. Dentley das unter Garantie als Rückschritt verbuchen und meinen Eltern klarmachen, dass ich noch länger hierbleiben müsste.
Dr. Dentley widerte mich total an. Der Zahnstein auf seinen Zähnen, seine Brille, die mit weißen Schuppenübersät war, und dann diese Art zu reden – wie aus dem Psychologie-Handbuch. Und seine Augen wanderten immer weg zu etwas, das ihm wichtiger war, während ich seine Super-Seelendoktor-Fragen beantwortete.
Ich fand, dass ich nicht hierhergehörte. Meistens hatte ich das Gefühl, alle andern hier wären verrückt – inklusive Dr. Dentley – und ich wäre die einzige Gesunde.
Da war zum Beispiel Emmitt, ein Berg von einem Jungen, der sich unentwegt in den Gängen herumtrieb und jeden um Kleingeld anbettelte. Oder Morris, der mit den Wänden redete, als wäre da jemand, der ihm Antwort gab. Adelle, deren Sprache dermaßen versaut war, dass sie oft nicht mal bei den Gruppensitzungen dabei sein durfte. Francie, die sich selbst gern Brandwunden zufügte und ständig damit herumprahlte, sie hätte eine Affäre mit ihrem Stiefvater, der schon Mitte vierzig war.
Und dann gab es noch Brandee – sie wusste, warum ich hier war, sah mich mit traurigen dunklen Augen an und stellte mir andauernd irgendwelche Fragen.
»Wie hat sich das angefühlt?«, wollte sie zum Beispiel im Fernsehraum wissen. »Du weißt schon – Leute umzubringen.«
»Ich hab keinen umgebracht.«
»Meine Mom sagt aber, das hättest du.«
»Die weiß doch gar nichts drüber. Das stimmt nicht.«
Auf den Gängen und in den Gruppensitzungen, immer war da Brandee mit ihren Fragen. »Wie war das, als der Schuss dich erwischt hat? Hat er absichtlich auf dich geschossen? Hat er gedacht, du lieferst ihn aus? Sind auch Freunde von dir erschossen worden oder
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