Die Hassliste: Roman (German Edition)
bin, Valerie.«
»Jessica«, sagte er und es klang wie eine Frage. »Was tust du hier?«
Sie schüttelte ihre Milchpackung und öffnete sie. »Mit Valerie Mittag essen«, antwortete sie. »Wir haben einiges zu besprechen, für den Schülerrat. Ich hab gedacht, hier könnten wir am besten ungestört reden. Da drin ist es so laut. Da kann man keinen klaren Gedanken fassen.«
Mr Angerson guckte, als wollte er irgendwo reinschlagen. Einen Augenblick lang stand er einfach nur da, dann tat er so, als ob in der Cafeteria etwas los wäre, und wieselte davon, um dort »nach dem Rechten zu sehen«.
Als er verschwunden war, kicherte Jessica leise.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Essen«, sagte sie und biss in ihre Pizza. »Gott, die ist wie aus Stein.«
Unwillkürlich musste ich grinsen. Ich nahm meine Pizza in die Hand und biss hinein. Schweigend saßen wir nebeneinander und aßen. »Danke«, sagte ich mit dem Mund voller Pizza. »Der sucht wie besessen nach einem Grund, mich von der Schule zu schmeißen.«
Jessica wedelte mit der Hand. »Angerson ist echt ein Arsch«, antwortete sie und lachte, als ich mein Notizbuch aufschlug und ein Bild von einem nackten Hintern in Anzug und Krawatte zeichnete.
[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Abby Dempsey, 17 – Als stellvertretende Schülersprecherin verkaufte Dempsey an einem Verkaufsstand des Schülerrats Donuts. Zwei Kugeln trafen sie in den Hals. Die Polizei geht davon aus, dass diese Kugeln nicht ihr galten, sondern einem anderen Schüler, der vor ihr in der Schlange stand, knapp einen Meter links von Dempsey. Dempseys Eltern wollten das Ereignis der Presse gegenüber nicht kommentieren. Freunde der Familie berichteten, sie seien »in tiefer Trauer über den Tod ihres einzigen Kindes«.
***
Mom rief mich auf dem Handy an und hinterließ mir die Nachricht, sie könnte mich nicht abholen, weil sie eine Besprechung hätte. Ich war stinksauer. Wie konnte sievon mir erwarten, dass ich mit dem Bus fuhr nach allem, was passiert war? Als könnte ich mich einfach eben so neben Christy Bruters Truppe in den Sitz fallen lassen und alles wäre in bester Ordnung. Wie kann sie nur?, dachte ich. Wie kann sie es wagen, mich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen?
Mir war sofort klar, dass ich auf gar keinen Fall mit dem Bus heimfahren würde, egal ob Mom mich nun abholte oder nicht. Ehrlich gesagt lag unser Haus nur etwa fünf Meilen weit weg von der Schule und ich war die Strecke schon öfter gelaufen. Aber damals waren meine Beine noch beide völlig okay gewesen. Ich bezweifelte, ob ich jetzt dazu imstande wäre. Ziemlich sicher würde mein Oberschenkel auf halber Strecke heftig zu pochen beginnen, und dann müsste ich mich irgendwo hinsetzen und wäre eine leichte Beute für jeden Angreifer.
Aber circa eine Meile würde ich zu Fuß schon schaffen, überlegte ich, und das war ungefähr die Entfernung bis zu Dads Büro. Mich von Dad fahren zu lassen stand natürlich nicht besonders weit oben auf meiner Wunschliste. Und er war garantiert auch nicht scharf darauf, mich durch die Gegend zu kutschieren. Trotzdem war das noch tausendmal besser als ein Schulbus-Desaster.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich mich dafür genierte, dass Dads Büro nicht eindrucksvoller war. Immerhin war er angeblich ein mächtig erfolgreicher Anwalt, aber trotzdem hockte er in einem winzigen Büro in einem Backsteingebäude, das sich hochtrabend Zweigniederlassung nannte, was meiner Meinung nach nur eine schicke Umschreibung für eine miese kleine Vorortklitsche war. Heute dagegen war ich froh, dass diese miese kleine Klitschenicht weit von der Schule lag, denn die Oktobersonne war zu schwach, um die kalte Luft zu wärmen, und kaum war ich unterwegs, da bedauerte ich es schon fast, dass ich nicht doch den Bus genommen hatte.
Ich war bisher selten in Dads Büro gewesen, denn er legte nicht gerade den roten Teppich für seine Familie aus. Er tat, als wollte er nicht, dass wir mit den – wie er sich ausdrückte – »zwielichtigen Typen« in Berührung kämen, die er vertrat. Aber ich glaube, in Wahrheit war das Büro Dads Zuflucht vor der Familie. Wenn wir regelmäßig dort aufgekreuzt wären, hätte es für ihn überhaupt keinen Sinn mehr gehabt, dauernd bei der Arbeit zu sein.
Als ich endlich die großen Glastüren am Eingang zu Dads Büro erreichte, war mein Bein ganz steif und ich humpelte wie ein Monster aus dem Horrorfilm. Ich war echt froh, dass ich
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