Die Haushälterin
den Keller geschlichen und hinter die Waschmaschine gekrochen. Ich hatte den Stecker gezogen und die Muschel daneben gelegt.
Meine Mutter hatte mir die Geschichte immer wieder erzählt: Auf ihrer Fahrt entlang der nordfranzösischen Küste brach die Vorderachse ihres geliehenen 2 CV.
Sie ließen den Wagen von einem Bauern in die Werkstatt schleppen, nahmen ein Taxi nach Port-en-Bessin, zählten ihr Geld und quartierten sich im Château La Che-nevière ein. Während der folgenden Nacht saßen sie auf der Terrasse, tranken Corton-Charletnagne und sprachen die Sprache der Liebenden, die, das hatte ich selbst erlebt, wenn die beiden sich unterhielten, der Sprache kleiner Kinder ähnelt. Plötzlich - meine Mutter meinte, es sei nach der zweiten Flasche gewesen - glaubten sie, am Horizont den Glockenturm des Mont Saint Michel aus den Fluten des Golfes von Saint Malo ragen zu sehen.
»Da ist er!« rief mein Vater. »Siehst du das weiße Licht?«
Meiner Mutter kamen die Tränen. Im Internat hatte sie Skizzen von Kirchen und Klöstern gesammelt und geschworen, sich von dem Mann, den sie einmal lieben würde, all diese Orte zeigen zu lassen. Sie suchte in ihrer Handtasche nach einer Muschel aus der Brasserie, in der sie gegessen hatten, und zeichnete die Abtei mit ihrem Kohlestift in die Schale. Am Morgen stellten die beiden fest, daß ihr Glockenturm ein Funkmast des Militärstützpunktes jenseits der Bucht war. Die folgenden Tage sollten die schönsten ihres Lebens werden, obwohl sie in ihren Erzählungen nur aßen, tranken und nachmittags vom Château zum Strand liefen, um am Meer zu sitzen, woraus ich folgerte, daß sie vieles für sich behielten.
Nach ihrer Rückkehr hatte meine Mutter ein Dutzend Farbfilme zu einem Photographen am Ballindamm gebracht, dessen Labor in derselben Nacht vollständig ausbrannte, weil im Pfeifengeschäft nebenan die Gasheizung explodiert war. Als letztes Erinnerungsstück der Reise blieb meinem Vater die Muschel; ein anderes, einen Seidenschal, hatte meine Mutter während der Wochen in der Klinik und schließlich zu ihrem Begräbnis getragen.
Mein Vater hatte eine Stütze aus Pappe gebastelt und die Muschel auf seinen Schreibtisch bei der HEW gestellt. Dann war diese Sache mit Doktor Steinbergs Sekretärin passiert: Sie kam wegen einer Aktenmappe in unser Haus und blieb über Nacht, eine Frau mit falschen Nägeln und nachgezogenen Augenbrauen, die mich anwies, saubere Handtücher neben die Dusche zu legen.
Am nächsten Tag rief mein Vater an und bat mich, ihm das gelbe Sakko für ein »spontanes Dinner« ins Büro zu bringen. Als er mir vom Automaten einen Kakao holte, nahm ich die Muschel von seinem Schreibtisch und steckte sie in meine Tasche. Er suchte überall, verdächtigte den Fensterputzer, die neue Praktikantin aus der Buchhaltungsabteilung und schließlich die Sekretärin. Er murmelte »Krähe« und »Miststück« und beschloß, sich nicht mehr mit dieser, ja, nie mehr mit irgendeiner Frau zu treffen -ein Vorsatz, den er nach wenigen Tagen brach, was mich gezwungen hatte, die Muschel weiter versteckt zu halten.
Ich drückte mich an die Wand. Mein Vater drehte die Muschel in der Hand und fuhr mit dem Daumen an ihren scharfen Kanten entlang, rund herum, als wollte er sie mit einem schützenden Zauber belegen. Dann sah er hoch.
»Ich bin Ada.«
»Das weiß ich«, sagte er. »Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.«
10
Ich sah seinen Blick, wenn sie das Porzellan aus der Vitrine nahm, Unkraut zwischen den Schwertlilien am Fluß jätete oder ihm aus der Küche eine volle Tasse Tee brachte. Manchmal rief er »Vorsicht!«, obwohl sie bloß Pollen vom Fenstersims wischte. Als ihr beim Kochen einer der Töpfe aus den Händen glitt, murmelte er: »Wenn das jetzt die gute Vase gewesen wäre!« Manchmal pickte er Fusseln vom Teppich und ließ sie, während ich zusah, mit beleidigter Miene in den Mülleimer unter der Spüle segeln. Wenn die Suppe dastand, sah er Nachrichten oder die Sportschau. Später brummte er »kalt«, noch bevor er probiert hatte.
Ich blieb in ihrer Nähe. Abends, nachdem sie gegangen war, schloß ich die Tür meines Zimmers ab, zeichnete oder las und rührte mich nicht, wenn er rief. Sie schien das alles nicht zu bemerken, warf mir heimlich Kußhände zu, sang Kinderlieder, trug offenes Haar und kochte die besten Moules a la belge, die ich je gegessen hatte. Sie mixte bunte Getränke - Singapore Sling und Daiquiri -, setzte sich eine Clownsnase vom letzten
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