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Die Haushälterin

Die Haushälterin

Titel: Die Haushälterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Petersen
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Professor in einem Landrover, der Professor beim Zieleinlauf des Hanse-Marathons.
    »Und«, sagte er, »mögen Sie auch Debussy?« Seine Augäpfel waren von feinen, hellroten Adern durchzogen. Er lehnte sich zurück; unter ihm knarrte das Gestell des lederbezogenen Sessels.
    »Ihr Vater hat Glück gehabt«, sagte er. »Der Kopf ist heil geblieben.«
    »Was ist mit dem Bein?« sagte ich.
    »Das Beinchen.« Er winkte ab. »Kriegen wir hin. Versprochen.«
    Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das schwarz war und ihm wie einem jungen Mann ins Gesicht fiel. Ich glaubte, daß er alles verstehe, schließlich traf er ständig Menschen, die Probleme hatten.
    »Er redet nicht mit mir«, sagte ich.
    Der Professor senkte den Kopf. An der Wand hinter ihm hing ein buntes Plakat, »Kunsthalle Hamburg - Robert Delaunay«: ein Doppeldecker, der Eiffelturm, eine Tänzerin auf einem Hochseil.
    »Nun«, sagte der Professor. Er stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und faltete seine Hände. »Ist Ihnen klar, daß Ihr Vater ein Alkoholproblem hat?«
    »Natürlich«, sagte ich.
    Er machte sich gerade und griff nach den Keksen.
    »Erinnern Sie sich, wann Ihnen das zum ersten Mal aufgefallen ist?«
    »Vor acht Jahren«, sagte ich. »Weihnachten siebenundachtzig.«
    Meine Mutter war gestorben. Mein Vater hatte Urlaub genommen und war mit mir nach Sylt gefahren. Er hatte ein kleines Apartment mit Garage in Rantum gemietet. Tagsüber liefen wir in unseren Daunenjacken den Strand entlang, schaumige Gischt in den Gesichtern, an den Füßen Moonboots, deren Sohlen im kalten Sand runde Abdrücke hinterließen. Wir trugen orangene Rucksäcke, die er in Westerland gekauft hatte. Meiner war gefüllt mit der Feldflasche, einem Säckchen Mandarinen und der neuen »Micky Maus«. In seinem Rucksack steckten Brote, »Stullen«, wie er sie nannte, belegt mit geräuchertem Aal und Mettwurst, ein Band mit Gedichten von Rilke, ein Flachmann und eine Flasche Scotch, aus der er nachfüllte, sobald er den Flachmann geleert hatte.
    Abends blies er die Kerzen an unserem Weihnachtsbaum aus, fuhr mit dem Wagen nach Westerland und kam erst nach Mitternacht zurück, Kneipendunst in den Kleidern und so betrunken, daß er einmal auf dem Fußboden schlief, wo ich ihn morgens in einer Pfütze getauten Schnees fand.
    »Wie alt sind Sie«, fragte der Professor.
    »Sechzehn«, sagte ich.
    »Sie sind jung«, sagte er. »Ich habe auch einen Sohn. Er ist gerade neunzehn geworden. Ziemlich guter Surfer.«
    Am Telefon leuchtete eine Lampe. Er nahm den Hörer und sagte: »Jetzt nicht.« Er lockerte seine Krawatte, öffnete den oberen Knopf seines Hemdes und lehnte sich wieder zurück.
    »Warst du schon mal surfen?«
    »Nie«, sagte ich. Daß er mich duzte, gefiel mir nicht.
    »Mit sechzehn hatte ich auch Probleme. Meinen Vater haben sie abgeschossen, dreitausend Meter über Brighton. Ich hatte vier Schwestern, und meine Mutter war Näherin in Geestacht.«
    »Das tut mir leid«, sagte ich.
    Er nahm noch einen Keks.
    »Wir haben Milch mit Wasser getrunken wie die jungen Katzen. Damals war mein Lieblingsspielzeug eine alte Blechdose, auf die meine Mutter mit einem Stück Kohle zwei Augen gemalt hatte.« Er starrte über mich hinweg, als wäre etwas in der Luft, was nur er entdecken konnte.
    »Ich muß noch einkaufen«, sagte ich.
    »So«, sagte der Professor. Er verharrte einen Moment. Schließlich reichte er mir über den Schreibtisch hinweg seine Hand.
    »Wenn die Dinge sich ändern, weiß man nicht, was wird«, sagte er. »Aber weiß man, was wird, wenn sie sich nicht ändern?«
    »Danke«, sagte ich, und dann ging ich raus, nickte der Sekretärin zu und dachte, daß dieser alte Idiot schlimmer war als alle Erwachsenen, die ich bis dahin getroffen hatte.
    Am 23. Juli lief mein Vater zum ersten Mal mit der Krankengymnastin von seinem Bett ins Treppenhaus, wo die Raucher der Station beim Aschenbecher standen und ihm applaudierten. Er lehnte sich an die Wand, lachte und winkte mit seinen Krücken. Manchmal sprach er mit ihnen über Politik oder Sport; sie standen im Halbkreis um seinen Rollstuhl und hörten zu. Er klagte über dies und das, ballte die Fäuste und fletschte die Zähne, erzählte Anekdoten oder schüttelte resigniert den Kopf, während sie brummten und stampften, lachten oder betreten schwiegen. Er gab ihnen Stimmungen vor wie Tonlagen, in die sie bereitwillig einfielen; es war, als schenkte er diesen Menschen in ihren Bademänteln etwas, das er für sich

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