Die Hebamme von Venedig
der für die nächsten Wochen sein Zuhause sein würde. Die Seeleute schliefen an Deck, und so musste er auch nachts hier unten bleiben und die Luke geschlossen halten, sonst würde noch einer von der Mannschaft, der zwischendurch aufstand, um sich zu erleichtern, zu ihm herunterfallen. Nicht mal, wenn der Koch nach unten kam, um Vorräte zu holen, würde Isaak einen Streifen Tageslicht sehen, denn dann musste er ganz in seiner Segeltasche verschwinden. Er würde diese Reise komplett im Dunkeln verbringen.
Isaak klemmte ein Stück Holz in die Luke, damit etwas Licht nach drinnen fiel, und sah sich in seinem neuen Heim um. Zwischen Seidenballen, die in grobes Musselin gehüllt waren, standen Kisten mit Zimt, Pfeffer, Ingwer und Muskat, die alle mehr wert waren als das Leben eines Seemanns. Er entdeckte duftendes Rosenöl, Moschus und Ambra aus Arabien, und weiter unten mussten indische Diamanten lagern, ceylonesische Perlen, Gold und Opium. Isaak steckte die Nase in einen Sack Salz, auf den mit einer Schablone die Insignien Ibizas aufgetragen waren, und nahm eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger. Wie gut es schmeckte, scharf und salzig wie ein Kuss. Ein Seufzer der Zufriedenheit entwich seinen Lippen. Vielleicht würde er überleben. Vielleicht würde er Hannah wiedersehen. Er nahm sich noch eine Prise.
Als er sie sich zum Mund führen wollte, hörte er einen Schrei. Erst dachte er, es sei ein Kormoran, der sich in der Takelage verfangen hatte, doch dann folgte ein weiterer Schrei, schriller diesmal. Isaak schob die Luke ein Stück weiter auf und reckte den Hals. Die Stimme kam von hoch oben, von direkt unter dem Krähennest, dem Ausguck, aus dem nach erfolgreicher Reise ein Seemann in ein paar Monaten »Land in Sicht!« rufen würde.
Ein Schiffsjunge mit flatterndem blondem Haar hing am äußersten Ende der obersten Rahe des Hauptmastes. Isaak konnte den schreckverzerrten Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen erkennen, der die Arme um das Holz geschlungen hielt, während er mit den Beinen hilflos im leeren Raum unter sich herumstrampelte und sich in einem Tau verfing. Er kämpfte darum, nicht von der Rahe abzurutschen, während sich das Tau immer fester um seine Wade wickelte. Je mehr der Junge sich mühte, desto enger zog sich das Tau.
Dann auf einmal konnte er sich nicht mehr halten, die Rahe entglitt seinem Griff, und er fiel. Isaak hielt die Luft an und hörte schon den dumpfen Aufschlag auf dem Deck. Aber der Sturz wurde nach ein paar Metern von dem Tau um den Fuß des Jungen aufgefangen, und er schwang vor Schmerz und Todesangst schreiend kopfüber in der Luft hin und her.
Isaak verfolgte entsetzt, wie der Ärmste, der höchstens elf oder zwölf Jahre alt war, bei jeder Seitwärtsbewegung des Schiffes mit dem Kopf gegen den Mast schlug.
Mit pochendem Herzen ließ Isaak den Blick über das Deck schweifen, bereit, in der Luke zu verschwinden, wenn eine der Wachen den Jungen hörte und ihm zu Hilfe kam. Er hockte sich hinter die Bilgenpumpe, aber es kam niemand. Der Wachhabende schlief entweder tief und fest oder war mit den übrigen Seeleuten an Land gegangen.
Das Stöhnen des Jungen wurde schwächer und war kaum mehr lauter als das Wimmern eines Neugeborenen. Man hätte es leicht für den Ruf einer Möwe oder ein Quietschen der Ankerwinde halten können. Isaak wusste, er sollte in seine heimelige Segeltasche zurückkehren und sich ein Stück Stoff über die Ohren ziehen, um das Todeswimmern des Jungen nicht mehr zu hören. Er hatte eine echte Chance, Venedig zu erreichen, ohne entdeckt zu werden. Sollte er seine einzige Aussicht auf Freiheit für dieses Kind opfern, das er nicht kannte und mit dem er nichts zu tun hatte?
Die Thora lehrte, dass man durch die Ermordung eines Menschen nicht nur ihn, sondern auch all seine Erben und Nachkommen tötete. Galt das auch umgekehrt? Würde Isaak, indem er den Jungen rettete, auch dessen gesamte Nachkommenschaft retten? Wie immer die Antwort darauf lautete, Isaak konnte sich nicht einfach in seine Segeltasche verkriechen. Er kletterte an Deck und spurtete Richtung Mast. Die Takelage kam ihm wie ein riesiges Spinnennetz vor, das den Jungen gefangen hielt wie eine todgeweihte Fliege.
Isaak begann in die Höhe zu klettern und hielt sich dabei mit Händen und Füßen und, wenn es sein musste, auch mit den Zähnen am Tauwerk fest. Immer höher hangelte er sich, und die Taue schnitten ihm in die Blasen an Händen und Füßen. Unversehens frischte der Wind auf, und
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