Die Hebamme von Venedig
Ghettos gewohnte Hannah wurde einen Moment lang von Schwindel erfüllt, so weit war der Aufgang. Sie blieb stehen und hielt sich an der Brüstung fest. Tief Luft holend, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, sah Hannah unter sich in einer Nische zwei Männer trinkend an einem Tisch sitzen. Die beiden hatten eine Weinflasche zwischen sich und zu ihren Füßen lag ein Spaniel. Der eine war der Bruder des Conte, Jacopo, dessen Gesicht von seinem Gang durch die Nacht noch ganz gerötet war. Der andere musste Niccolò sein, der jüngste der drei. Er sah gut aus, hatte lockiges dunkles Haar, das zerzaust war, als hätte er gerade noch im Bett gelegen.
Jacopo nahm zwei Elfenbeinwürfel, blies darauf, was ihm wohl Glück bringen sollte, und warf sie auf den Tisch. Hannah drehte sich leicht zur Seite, ihre Ledersandalen machten ein quietschendes Geräusch auf dem Marmor, und Niccolò sah zu ihr auf und prostete ihr spöttisch zu.
Nichts in diesem Palazzo kam ihr vertraut oder sicher vor. Sie fühlte sich wie ein kleines Tier auf einem weiten, offenen Feld, das von lauter Raubtieren umgeben war. Es war alles viel zu groß, ohne dass man sich irgendwo hätte verstecken können. Ob sich der Conte in ihrem bescheidenen Zimmer mit den feuchten Wänden und dem rauchenden Kohlenbecken wohl ebenso unbehaglich gefühlt hatte wie sie hier in diesem Palazzo, umgeben von schweren Vorhängen, Seidenquasten, schimmerndem Silber und kunstvollen Kassettendecken?
Sie ging weiter, fühlte die Kälte der Marmorstufen durch die dünnen Sohlen ihrer Sandalen dringen und verscheuchte das Bild der beiden trinkenden Männer aus ihren Gedanken. Eines war sicher: Die Contessa würde eine Frau wie jede andere sein, mit Beckenknochen, einem Bauch und einer Gebärmutter.
Hannah hatte gehört, dass die Christen ihre Palazzi und Kirchen mit menschlichen Abbildern Gottes füllten, und tatsächlich, oben am Ende der Treppe zeigte ein leuchtend farbiges Fresko zwei Frauen, die Christus die Füße wuschen. Hannah fasste ihren Rock und senkte den Blick. Die Thora verbot die Anbetung von Götzenbildern. Sie dachte an ihre schöne Schul im Ghetto, die Synagoge mit der geschnitzten hölzernen Kanzel, von der der Rabbi seine Predigten hielt, dem vergoldeten heiligen Schrein, in dem die Thora lag, und der filigran geschmückten Trennwand zwischen dem Bereich für die Männer und der Galerie für die Frauen. Im Vergleich zu diesem Palazzo kam ihr das alles kärglich vor.
Sie folgte Giovannas breitem Gesäß einen Flur hinunter, der mit einem rubinrot, smaragdgrün und topazfarben gemusterten Teppich ausgelegt war. Der Mond schien durch die Oberlichter und warf rautenförmige Muster auf die Edelsteinfarben.
Hannah hätte Giovanna nicht gebraucht, um das Schlafzimmer der Contessa zu finden. Die Schreie der Frau führten sie in einen Raum, der so groß war, dass sie das Bett zuerst gar nicht sah, aber schon ertönte ein neuerlicher Aufschrei, der ihren Blick in die richtige Richtung lenkte. Dennoch blieb Hannah einen Moment lang wie geblendet in der Tür stehen. In diesem Zimmer schien es mehr Gold zu geben als in König Salomons Minen, und neben dem Mondlicht, das durch die Fenster fiel, erleuchteten zahllose Lampen und Kerzen die Pracht. Das Licht war überall, es tanzte in kleinen und großen Spiegeln und brachte Gold und Bronze zum Leuchten. Selbst der Terrazzoboden, glasglatt, bunt und mit Halbedelsteinen durchsetzt, glich einem leuchtenden Teppich. Die Fenster waren mit Seidentaftvorhängen geschmückt, in die Goldbrokat eingewebt war, und auch darin fing sich das Mondlicht.
Über dem Bett hing ein kleines Andachtsbild der in ein lapislazuliblaues Gewand gehüllten Muttergottes, die ihrem Kind mit verzücktem Ausdruck auf dem ebenförmigen Gesicht eine Brust anbot. Für Christen musste es ein liebevolles Bild sein, Hannah jedoch spürte, wie sich ihr vor Abscheu der Magen zusammenzog. Nur Gott konnte Menschen schaffen. Es war sündhaft, ihn mit Götzenbildern nachzuahmen. Wenn sie Giovanna nur bitten könnte, es abzuhängen und durch ihren Schaddai, ihr Amulett aus gehämmertem Silber, zu ersetzen. Hannah sah zur Seite und legte ihre Tasche auf einen Sessel.
In der Ecke des Raumes stand ein reich geschmücktes Kinderbettchen, eine kleinere Version des Bettes der Contessa. Möge nur bald jemand darin liegen, dachte Hannah. Die anschwellenden Schreie riefen sie an das Bett der Frau.
Da lag die Gequälte, unter einem von vier Säulen getragenen Baldachin, und
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