Die Hebamme von Venedig
sie musste gegen die anwachsende Panik ankämpfen, gegen ihren Drang zu fliehen, bevor die Frau in ihren Armen starb. Noch nie hatte sie so eine schwache Mutter erlebt. Noch nie war der tragische Ausgang einer Geburt so sicher gewesen. Hannah fühlte ihren eigenen Atem und Herzschlag schneller werden. Sie zog die Hand zwischen den Schenkeln der Contessa hervor und wischte sie sich an einem sauberen Tuch ab.
Hannah dachte an die Ermahnung des Conte, vor allem das Leben des Kindes zu retten. Wäre es da nicht das Beste, Lucia, die dem Tod doch schon so nahe war, den Bauch zu öffnen und das Baby herauszuholen, bevor es erstickte? Das Kind zu retten würde Hannah die Dankbarkeit des Conte sichern. Aber konnte sie eine Frau aufschneiden, die ihr trotz aller Schmerzen ein Lächeln geschenkt und sogar noch einen kleinen Scherz gemacht hatte?
»Ich will, dass Ihr so tief wie nur möglich atmet. Tief und langsam. Dann werden wir sehen, ob wir dieses widerspenstige Kind nicht aus Eurem Leib herausbekommen.«
Der Kopf der Contessa kippte nach hinten. Ihr Gesicht war so weiß wie das Kissen, das es umrahmte. Hannah legte zwei Finger auf das Handgelenk der Contessa, der Puls war kaum zu finden und so schwach wie der eines Vögelchens.
»Gott, hilf mir und führe meine Hände«, murmelte sie auf Jiddisch.
»Rette sie meine arme Herrin«, sagte Giovanna. »Sie bekommt das Baby nie lebend aus ihr heraus. Da hilft nur noch der Haken.«
Hannah bedeutete Giovanna, ruhig zu sein, und hoffte, dass die Contessa zu schwach war, als dass die Worte noch zu ihr durchdrangen. Der Haken, Hannah musste wieder an die Frau in der Calle del Forno und den verstümmelten Fötus denken. Nein. Wenn, dann würde sie ihr eisernes Messer benutzen. Töte die Mutter, rette das Kind. Wenn sie die Anweisungen des Conte missachtete, konnte sie weder Schutz vor dem Gesetz noch ihren Lohn erwarten. Besser, Giovanna verließ den Raum.
»Bitte, gehe sie und hole frische Tücher. Wir wollen versuchen, es ihrer Herrin bequemer zu machen.« Giovannas einzige Fähigkeit bestand darin, den Fötus zu zerteilen. War es da ein Wunder, dass Lucia so viele erfolglose Niederkünfte hatte erleben müssen?
Als Giovanna gegangen war, wurde Hannah bewusst, dass sie die Contessa nicht gefragt hatte, ob die Fruchtwasserblase geplatzt war. Sie hob die Decke und befühlte das Bettzeug. Es war blutig, aber nicht nass. Sie griff nach ihrer Tasche, holte das Messer heraus und versteckte es unter Lucias Kopfkissen. So war es griffbereit, wenn sie der Contessa den Bauch aufschlitzen musste.
Lucias Augen öffneten sich. »Werde ich sterben?«, flüsterte sie. »Es wäre die gerechte Strafe für meine Sünden. Was für einen Sinn hat mein Leben noch, wenn ich meinem Mann keinen Erben zu schenken vermag?« Mit diesen Worten rollte ihr Kopf zur Seite, und alles Leben schien aus ihr zu weichen.
Was für Sünden konnte diese hustende, fiebrige Frau schon begangen haben? Hannah küsste sie auf die Stirn. Der Geruch von brennendem Talg vermischte sich mit dem von Blut und Wochenfluss.
»Ihr seid müde und entmutigt, aber es ist noch zu früh, um die Hoffnung aufzugeben.« Sollte die Contessa durch ein Wunder überleben, war es auf jeden Fall ihre letzte Schwangerschaft. Sie war zu alt und ihr Körper sicher nicht fähig, noch ein weiteres Kind in sich heranreifen zu lassen.
»Lebt mein Kind noch? Ich habe schon eine Zeitlang keine Bewegung mehr gespürt«, sagte Lucia, aber noch bevor Hannah darauf antworten konnte, schloss sie die Augen und verzog das Gesicht, ihr Leib verhärtete sich und wurde von einer Wehe geschüttelt. Der Krampf dauerte eine ganze Weile an und ließ sie schließlich völlig erschöpft in die Kissen sinken.
»Ob das Kind noch lebt, kann ich nur sagen, wenn ich das Ohr auf Euren Leib lege.«
Wenn sie keinen Herzschlag hörte, würde sie den Haken nehmen, den Fötus zerteilen und Glied für Glied aus dem Körper der Contessa holen müssen. Dann hatte diese vielleicht noch eine Chance. Wenn das Baby dagegen noch lebte, blieb Hannah kaum eine andere Wahl, als Lucia aufzuschneiden, ihr in den blutenden Leib zu greifen und das Kind herauszuholen, bevor es starb.
Sie nahm die Hand der Contessa und drückte sie sich an die Wange, als eine weitere Wehe kam. Anschließend legte Hannah ihr das Ohr auf den Leib und lauschte auf das Klopfen des kleinen Herzens. Sie hielt still und wartete, rückte den Kopf etwas unter den Nabel und lauschte erneut. Nichts. Schließlich
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