Die Hebamme von Venedig
und schloss die Tür hinter ihr. Sie trat zu Hannah, beugte sich vor und hob die Decke zur Seite. Matteo winkte Jessica mit einem Füßchen zu. Seine Augen waren unglaublich blau.
»Bist du wahnsinnig? Hast du mit einem Ungläubigen geschlafen? Das ist ein Christenkind.«
»Er ist ein Christenkind, aber nicht meines.«
Matteo schrie jetzt wieder, das Gesicht wütend rot, und wedelte mit den Fäusten durch die Luft.
»War dein Wunsch nach einem Kind so groß, dass du ihn gestohlen hast?« Jessica beugte sich näher zu Hannah hin, damit die sie trotz des Babygeschreis verstand.
»Er ist in Gefahr«, sagte Hannah. »Sein Onkel hat versucht, ihn zu töten. Ich brauche nur ein paar Tage, bis seine Eltern zurückkommen.«
»Du wagst es, dieses Kind in mein Haus zu bringen? Mein Leben aufs Spiel zu setzen?« Sie sah den winzigen Kerl in Hannahs Armen an. »Himmel noch mal, kannst du ihn nicht zum Schweigen bringen? Meine Nachbarn werden denken, ich kastriere eine Katze.«
»Er ist das neugeborene Kind des Conte di Padovani«, sagte Hannah.
»Guter Gott, nicht einfach irgendein Christenkind, sondern auch noch ein adliges. Ich kenne die Familie gut, wenigstens zwei der Söhne.«
»Sein Onkel wollte ihn ermorden, im Ghetto, und mir die Schuld geben. Das ganze Ghetto hätte unter den Folgen zu leiden gehabt. Bedeutet dir das gar nichts?«
»Ich bin keine Jüdin mehr«, sagte Jessica. »Das Glück war mir hold. Ich bin vorangekommen, habe ein schönes Haus und meine Gönner. Ich arbeite viel, habe Erfolg und wundervolle Aussichten, mir ein Vermögen zu schaffen – und jetzt platzt du hier mit diesem Schreihals herein, um alles zu verderben?«
Jessica trat ans Fenster und stieß dabei gegen Hannahs Tasche, in der es klackte. Sie hielt inne. »Und was trägst du in deiner schäbigen Tasche mit dir herum?« Bevor Hannah sie aufhalten konnte, griff Jessica hinein und holte die schmutzigen Geburtslöffel hervor. »Mein Gott! Was ist das denn für ein ekliges Ding?«
Hannah spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Ein Arbeitsgerät. Geburtslöffel.« Als sie den Abscheu im Gesicht ihrer Schwester sah, erklärte sie ihr den Zweck, allerdings ausführlicher als nötig.
Jessica schüttelte sich und steckte die Löffel zurück in die Tasche. »Du hättest als Mann auf die Welt kommen sollen«, sagte sie. »Du erinnerst mich an Papa. Weißt du noch? Seine kleinen Pinzetten für die Edelsteine?«
Hannah nickte. Matteo hatte fürs Erste wieder aufgegeben und war verstummt. Hannah legte ihn auf Jessicas mit Samt überdachtes Bett und versuchte sich nicht vorzustellen, was sich auf dieser roten Decke schon alles abgespielt hatte.
Plötzlich sah sie Matteo wieder auf dem Tisch des Schächters liegen und Niccolò mit erhobenem Messer über ihm. »Ich habe dieses Kind vor seinem Onkel gerettet. Niccolò hat es ins Schächthaus des Ghettos gebracht und hatte das Messer bereits an seinem Hals.« Ihre Unterlippe begann zu zittern. »Ich habe ihn umgebracht, Jessica. Ich habe einen Menschen umgebracht. Immer wieder habe ich mit dem Messer des Schächters auf ihn eingestochen und nicht mehr aufhören können. Dann habe ich ihn zum Kanal gezogen und seine Leiche hineingeworfen. Vielleicht macht mich das zu einer Hexe, aber was hätte ich denn tun sollen?« Sie wickelte Matteo aus seiner Decke und zeigte ihr das Blut auf dem eingestickten Wappen. »Das ist Niccolòs Blut.«
»Heilige Muttergottes«, sagte Jessica.
Matteo fing wieder an zu jammern. Dicke, runde Tränen rannen ihm über die Wangen, und er streckte Jessica die Arme entgegen, um getröstet zu werden.
»Weine nicht, mein Kleiner.« Die Worte schienen ihr ganz natürlich von den Lippen zu kommen. »Es wird ja alles wieder gut.« Sie wischte ihm die Tränen mit dem Saum ihres Rockes ab, und als sie sich vorbeugte und an seiner Decke zog, um ihn behaglicher zu wickeln, fasste er ihren Finger und hielt ihn fest. Jessicas Ausdruck wurde weicher.
»Du bist keine Hexe«, sagte sie und sah Hannah an. »Du bist meine Schwester.« Jessica beobachtete, wie Matteo ihren Finger in seinen Mund zog. »Die beiden Brüder sind unter meinen Kolleginnen wohl bekannt. Bei uns gibt es ebenso viel Klatsch wie bei euch Hebammen. Niccolò ist, oder war, jähzornig und stets für einen Streit gut. Er hat sich immer leicht von seinem Bruder beeinflussen lassen. Beide sind Spieler und haben zweifellos große Schulden bei den Geldverleihern des Ghettos. Jetzt musst du Jacopo fürchten, und
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