Die Hebamme von Venedig
hinter uns. Sie besteht also darauf, den Kleinen rituell zu töten? In Ordnung. Sie kann mich anleiten und mir sagen, was ich tun muss.« Er beobachtete sie, angespannt und auf plötzliche Bewegungen gefasst.
»Gut, aber da ich nicht weiß, was für ein christliches Gebet passend wäre, wird ein jüdisches herhalten müssen«, sagte Hannah. »Ich werde einen Bracha, einen Segen, sprechen, auch wenn der Kleine heidnisch ist.« Hannah zog sich ihr Tuch fester um den Kopf. Ihre Gedanken überschlugen sich, so dass ihr der Segensspruch nicht einfallen wollte. Sie hob die Hände über den Kopf des Babys, schloss die Augen und begann: »Gesegnet seist Du, Herr unser Gott, König der Welt.«
»Das dauert zu lange«, unterbrach Niccolò sie. »Die Wirkung des Schlaftrunks lässt nach.«
Hannah sagte: »Schnell, legt ihm die Hand auf die Brust und haltet ihn ruhig. Wenn er zappelt, könnt Ihr nicht richtig schneiden.«
Matteo rührte sich. Niccolò hielt das Messer mit der Rechten neben den Kopf des Babys. In der Klinge spiegelte sich die kleine Faust Matteos.
»Dreht ihn mehr zu mir hin«, sagte Hannah, »dann könnt Ihr das Messer besser ansetzen.«
Das Messer erhoben, drehte Niccolò den Kleinen, und Hannah trat näher.
»Sein Hals ist sehr fleischig«, sagte sie. »Ihr müsst die Halsader treffen, damit das Blut heraussprudelt. Streicht ihm über die Kehle, damit er den Kopf zurücklegt.«
Niccolò fuhr dem Kind mit der stumpfen Seite der Klinge über den Hals. Matteo bewegte den Kopf.
»Und jetzt tretet zurück«, sagte Hannah, »so weit Ihr könnt, ohne seine Brust loszulassen.«
Niccolò streckte den Arm aus und hielt die Finger auf den kleinen Oberkörper gedrückt, das Messer eine Armlänge von Matteos Hals entfernt.
Ein leises Rascheln ertönte aus einer Ecke, hinter einem Fass. Eine Ratte. Niccolò warf einen Blick hinüber und ließ das Baby und Hannah einen kurzen Moment aus den Augen. Das genügte. Vielleicht war dies die letzte Gelegenheit.
Hannah sprang vor und griff nach dem Messer. Die Unvermitteltheit ihres Angriffs überraschte ihn, und nach kurzem Ringen verlor er die Waffe. Wie wild stach sie um sich, nach seinen Augen, dann nach seiner Schulter, der Brust, dem Oberarm, nach allem, was sie erreichen konnte, und trieb ihn vom Tisch und von Matteo weg. Wieder und wieder stach und hackte sie nach ihm, hielt das Messer mit beiden Händen und trieb es ihm ins Fleisch. Niccolò, dem das Blut übers Gesicht floss, reagierte erst eine Sekunde lang nicht, dann schrie er auf und versuchte, sie zu packen. Doch sie war schnell und huschte aus seiner Reichweite. Blut lief ihm in die Augen; er konnte kaum noch sehen.
Die Klinge traf krachend auf einen Knochen, sie hatte noch nie ein befriedigenderes Geräusch gehört. Blut spritzte auf. Erneut stieß Hannah mit dem Messer zu und konnte nicht aufhören.
Schließlich traf sie ihn tief in die Seite und zertrümmerte die Rippen, wo das Messer in ihn eindrang. Er fasste sich an die Brust und taumelte gegen den Tisch. »Heilige Muttergottes.« Er wankte rückwärts, suchte am Tisch Halt, riss ihn aber am Ende nur mit sich. Matteo fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden und fing erschreckt an zu schreien, das kleine Gesicht so rot wie das Blut, das aus Niccolòs Wunden quoll. Hannah nahm ihn hoch und drückte ihn sich an die Brust.
Vielleicht war sie besessen. War das die Tat einer Hexe? Hatte es ihr gefallen, Niccolò so zuzurichten? Selbst noch mit dem Kind auf dem Arm und Niccolò reglos blutend zu ihren Füßen wollte sie weiter auf ihn einstechen.
Matteos Schreie brachten sie wieder zur Besinnung. Sie zwang sich dazu, das Messer auf den Boden zu werfen. Matteo war außer sich und wehrte sich gegen sie. Sie legte ihn auf einen Stuhl, packte Niccolò und zerrte ihn durch die Tür zum Kanal. Endlich einmal waren die glitschigen Pflastersteine zu etwas nütze. Hannah hörte, wie Niccolòs Körper dumpf auf dem Wasser aufschlug, und überzeugte sich nicht erst davon, dass die Leiche versank, sondern lief zurück in die Schächterei, packte Matteo und ihre Tasche und rannte los, rannte aus der Gasse über den Campo und durchs Tor des Ghettos, ohne auf Vicentes schlafende Gestalt zu achten.
Sie musste den Kleinen zurück in den Palazzo bringen und dem Conte von den Taten seines Bruders berichten. Sie besah ihr Kleid und das Kind. Alles war voller Blut.
Und dann erinnerte sie sich und begann am ganzen Körper wie von einem plötzlichen Fieber befallen zu
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