Die Hebamme von Venedig
nach Venedig zurückkehrt?« Jessica griff nach einer kleinen Glasflasche mit einer Pipette, die auf dem Frisiertisch stand.
»Ich vertraue darauf, dass er kommt.«
Jessica legte den Kopf zurück, gab einen Tropfen Belladonna in jedes Auge und blinzelte, bis sich die Flüssigkeit verteilt hatte. Die geweiteten Pupillen machten ihre Augen noch dunkler.
»Zu dir zu kommen hat mich so viel Überwindung gekostet wie nichts zuvor. Lass mich bleiben«, flehte Hannah. »Dann bringe ich Matteo zurück, segle nach Malta und bitte dich nie wieder um etwas.«
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Jacopo herausbekommt, dass du meine Schwester bist, und er weiß genau, wo ich wohne.«
Hannah wollte etwas sagen, aber Jessica fuhr bereits fort: »Und wie willst du den Kleinen ernähren? Hast du eine Amme, die ihn stillt?«
»Ich werde ihm Brei geben, bis ich ihn wieder in den Palazzo bringen kann.«
»Die Friedhöfe sind voll von breigefütterten Babys.«
»Ich habe keine Wahl.«
Jessica versuchte zu lächeln. »Sorge dich nicht. Was immer passiert, wir stehen zusammen, wie Schwestern es sollten.« Sie nahm Hannahs Tasche mit den Geburtslöffeln und Dukaten und stopfte sie hinter das Kopfteil des Bettes. »Da ist sie sicher«, sagte sie und breitete ein Musselintuch darüber. Sie griff noch nach einem Paar Ohrringe, legte sie an, verabschiedete sich von Hannah, nahm ihre Abendhandtasche und ging.
Durch das offene Schlafzimmerfenster beobachtete Hannah, wie Jessica langsam die Fondamenta entlanglief. Ihre Absätze waren so hoch, dass der Gondoliere sie stützen musste, als sie an Bord stieg. Jessica sah zu Hannah hinauf, blies einen Kuss in ihre Richtung und machte es sich in der Felze bequem.
Jessicas Gondel legte ab, und plötzlich sah Hannah etwas, das sie nach Luft schnappen ließ. Eine Barke kam vorbei, die so hoch mit Leichen beladen war, dass sie kaum unter der Brücke hindurchkam. Der Gestank der aufgedunsenen Körper, die unter dem Druck der eigenen Säfte zu platzen drohten, wehte zu ihr herauf, und sie presste die Hand über Mund und Nase. Auf den Toten lagen Rosmarin- und Wacholderzweige, aber die änderten kaum etwas an der üblen Geruchswolke, die sie verbreiteten. Es war also doch schon so weit. Während der letzten Epidemie waren viele Venezianer aufs Festland geflohen, doch die Bauern dort, die eine Ansteckung fürchteten, hatten sie mit Waffengewalt zurück in die Stadt getrieben. Hannah musste nur die Zeit überstehen, bis sie an Bord der Balbiana gehen konnte. Sie musste unbedingt nach Malta, bevor die Pest alles Reisen unmöglich machte.
Hannah ging zum Fenster und sah auf den Kanal hinaus, wo der volle Mond hoch am Himmel stand. Jedes Knarzen der Bodendielen, jede Gestalt in der Ferne und jedes Platschen vom Kanal ließen sie zusammenfahren.
Wer würde sie zuerst erwischen? Jacopo, der mit etwas Herumfragen erfahren würde, dass die jüdische Hebamme die Schwester der schönen Kurtisane war, die an der Fondamenta della Sensa wohnte? Oder die Pest?
Matteo schlief ruhig atmend auf Jessicas Bett. In seinen Mundwinkeln sammelten sich kleine Speichelbläschen, und seine langen Wimpern warfen zarte Schatten auf seine Wangen. Die immer noch winzigen Händchen steckten unter der Decke. Im Augenblick waren sie hier sicher, aber Jessica hatte recht. Ohne Amme konnte Hannah Matteo nicht am Leben halten. Breigefütterte Babys füllten die Friedhöfe.
Kapitel 15
I saak saß halb begraben unter Segeltuch auf dem Boden von Josephs Segelmacherwerkstatt. Mit einer gebogenen Nadel nähte er Windstreifen auf ein quadratisches Segel, lange, schmale Stoffbänder, die den genauen Windverlauf anzeigten. Ein Lederschutz sorgte dafür, dass er die Nadel durch das Tuch treiben konnte, ohne sich zu stechen.
Isaak blickte auf, als er leichte Schritte durch die Eingangstür treten hörte. Es war die große, hellhäutige Gertrudis, die den Geruch frisch gebackenen Brotes mit hereinbrachte, das in einem Korb an ihrem Arm schaukelte. Das Haar hatte sie sich mit einem Band zusammengebunden, und ihr Kleid war voller blauer, brauner und schwarzer Farbflecken. Oben am Haaransatz, an den Schläfen, war etwas weiße Farbe zu erkennen, als hätte sie sich die Haare beim Malen zurückgeschoben.
Er saß schon so lange da, dass ihm die Füße eingeschlafen waren und er sie massieren und heftig mit den Zehen wackeln musste, bevor er sich erheben konnte. Gertrudis sah sich in der Werkstatt um und blinzelte dabei einen Moment lang, weil
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