Die Hebamme von Venedig
sich ihre Augen nach dem hellen Sonnenlicht draußen noch nicht an die Düsternis gewöhnt hatten. Sie hielt einen vertraut aussehenden Brief in der Hand und richtete ihren Blick auf Isaak.
»Wo kann ich Joseph finden?«, fragte sie mit honigsüßer Stimme.
»Er ist unten im Hafen und stattet ein Schiff mit Proviant aus. Kann ich Euch weiterhelfen?«, fragte Isaak.
Sie warf den Brief auf einen Tuchstapel. »Er soll aufhören, mir Briefe zu schicken.«
Isaak hatte sie bisher noch nicht aus der Nähe gesehen. Jung war sie nicht mehr, vielleicht dreißig, aber immer noch hübsch, mit blauen Augen und einem Mund, der so schön geformt war wie die Waffe eines Bogenschützen. Je länger er sie betrachtete, desto mehr sank sein Mut. Schwester Assunta hatte recht: Joseph war wie Tantalus, der sich nach Trauben reckte, die viel zu hoch über seinem Kopf hingen.
»Seid Ihr die gute Samariterin, die Schwester Assunta fünf Scudi gegeben hat, um mich zu kaufen?«, fragte Isaak.
»Das bin ich, wobei es ihm nicht viel geholfen zu haben scheint.«
»Ich muss Euch dennoch danken.« Isaak nahm den Brief und wedelte damit über ein verkrumpelt daliegendes Segel, das voller Staub war. »Darf ich?«, fragte er und hielt den Brief in die Höhe.
Gertrudis nickte.
Er entfaltete das Pergament und tat so, als lese er voller Neugierde, was darauf stand.
»Was für ein guter, schöner Brief. Seht Ihr, wie ordentlich und deutlich er geschrieben ist? Und selbst Engel hätten kein glatteres Pergament herstellen können.«
»Tu er nicht so, als kenne er den Brief nicht. Ich habe ihn auf dem Platz schreiben sehen. Im Übrigen ist es weder die Schreibkunst noch die Komposition, die mich ärgert. Ich mag Joseph einfach nicht und will keine Briefe von ihm. Richte er ihm das von mir aus.« Damit wandte sie sich wieder der Tür zu, schien aber noch nicht gehen zu wollen.
Wie konnte er die Glut des Verlangens in Gertrudis entfachen? Wenn er sie nur dazu bewegen könnte, dem Mann eine Chance zu geben, würde Joseph ihn freilassen, und er könnte sich an Bord des nächsten Schiffes nach Venedig stehlen.
»Joseph bewundert Euch wie sonst niemanden auf dieser Welt. Ihr werdet keinen zweiten Mann wie ihn finden. Diese Möglichkeit, glücklich zu werden, solltet Ihr nicht einfach so abtun.«
»Was glaubt er eigentlich, wer er ist«, sagte sie, »dass er mir so schlecht zurät?«
Er trat einen Haufen Stoff beiseite und verbeugte sich, so gut er konnte. »Nur einer der vielen Sklaven, die es auf diese Insel verschlagen hat.« Er hatte schon sagen wollen, »auf diese elende Insel«, es sich im letzten Moment aber anders überlegt. Sie war Malteserin und musste ihre Heimat lieben, wie er Venedig liebte. »Isaak Levi, zu Euren Diensten.«
»Er sieht halb verhungert aus.« Sie griff in ihren Weidenkorb und gab ihm einen Brotlaib. »Ich nehme an, Joseph ist mit dem Essen nicht so großzügig wie mit seinen Liebesbeteuerungen.«
Isaak war dankbar für das Brot und biss ein Stück davon ab. Der Laib war ganz frisch, sogar noch warm, und duftete himmlisch.
Sie betrachtete ihn. »Er ist Venezianer, richtig? Aus seinem Mund klingt der hässliche Malteser Dialekt fast elegant.«
Er nickte und kaute bedächtig, um so lange wie möglich von dem Brot zu haben.
Sie warf einen Blick auf seinen Gebetsschal. »Ist er Jude?«
Isaak nickte wieder.
Gertrudis raffte ihren langen Rock und suchte nach einem Platz zum Sitzen. In der Ecke stand ein Hocker, den sie mit dem Fuß zu sich heranzog. »Dieser Brief stammt doch von seiner geschundenen Hand?« Gertrudis machte eine Geste zu dem Stück Pergament hin, das Isaak auf die Segel gelegt hatte.
»Ich habe ihn geschrieben, ja. Josephs Handschrift ist nicht so gut, weil er in der Nähe nicht so deutlich sieht. Verfasst hat er ihn aber selbst, mit Herzblut, das versichere ich, wenn auch etwas blumig.« Er bedauerte seine Lügen, noch bevor sie seinen Mund verlassen hatten. Eines Tages würde Gott ihn dafür strafen, aber im Moment brauchte er Gertrudis’ Hilfe.
»Joseph könnte solch einen Brief genauso wenig schreiben wie eines meiner Schweine. Die darin beschriebenen Gefühle sind schön, und von einem anderen Mann könnten sie mir durchaus gefallen.«
Sie betrachtete Isaak mit einer solchen Offenheit, dass er sich seiner Lügen doppelt schämte, stand auf und suchte in einem Haufen mit allerlei Tuchresten in der hinteren Ecke der Werkstatt herum. Sie fischte ein Stück Leinwand daraus hervor und glättete es
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