Die Hebamme von Venedig
auf einem Fichtenbrett, das sie auf dem Boden fand und sich auf den Schoß legte, starrte Isaak so lange und so ohne jede Zurückhaltung an, als wäre er ein Ding und kein Mensch und vermaß mit Daumen und Zeigefinger die Proportionen seines Gesichts.
»Er hat einen interessanten Ausdruck.«
Er spürte, wie er rot anlief, und konzentrierte sich auf sein Brot.
Gertrudis öffnete die Tür, blockierte sie mit einem Stein von der Straße und ließ die Sonne hereinfluten, dann holte sie ein Stück Weidenholzkohle aus ihrer Tasche und begann zu zeichnen.
Isaak hatte schon einige Künstler bei der Arbeit beobachtet. Tintorettos Atelier lag direkt vor den Toren des Ghettos an der Fondamenta della Sensa. Es war nichts Ungewöhnliches, an heißen Tagen Lehrlinge von ihm draußen sitzen zu sehen, wie sie auf gespannten Leinwänden biblische Szenen entwarfen. Aber Isaak hatte nie jemanden gesehen, und schon gar keine Frau, die mit so sicheren, schnellen Strichen arbeitete.
Sie war völlig versunken in ihr Tun, und ihre Hand flog nur so über das Leinen. Konzentriert sah sie von ihm zu ihrer Skizze und wieder zurück, als folgte ihr Blick einem Ball, der hin- und hergeworfen wurde.
Isaak wusste nicht, wo er hinschauen sollte, so verlegen war er. Wieder und wieder stach er mit seiner Nadel in das Segel. »Es ist sinnlos, einen halb verhungerten Sklaven zu malen. Joseph ist ein gutaussehender Mann mit markigen Zügen. Ihn solltet Ihr malen, nicht mich.« Er reckte den Kopf, um einen Blick auf die Leinwand zu werfen, aber sie zog sie weg.
»Lieber würde ich eine Kröte zeichnen.«
Sie vollendete ihr Werk noch mit einigen Strichen und drehte die Zeichnung dann in seine Richtung, um sie ihm zu zeigen. Er sah sein eigenes schmales, ernstes Gesicht, dunkle Augen mit markanten Brauen, vom Hunger ausgehöhlte Wangen, einen sinnlichen Mund, den er nicht als seinen wiedererkannte, und einen Bart, der den kräftigen Kiefer bedeckte. Auf der Zeichnung hatte Isaak eine verstörende Ähnlichkeit mit einem Altarbild, das er einst durch die geöffnete Tür einer Kirche in Venedig gesehen hatte. Es war das Porträt eines majestätischen Moses, der von Gott die Zehn Gebote erhielt.
»Ihr schmeichelt mir«, sagte er.
»Ich habe ihn genauso gezeichnet, wie er ist. Mag er das Bild behalten?« Sie suchte noch ein Stück Leinwand und legte es vorsichtig auf das andere. Bedacht darauf, die beiden nicht übereinanderzureiben, rollte Gertrudis sie auf. Sie zog an dem blauen Band in ihrem Haar, bis es sich löste und ihr die Locken über die Schultern fielen. Isaak sah sie plötzlich vor sich, wie sie zerzaust und nach Schlaf riechend morgens aus dem Bett stieg; aber so schnell das Bild entstanden war, verdrängte er es auch wieder.
Sie wickelte das Band um die Rolle, verschloss sie mit einem Knoten und gab sie ihm. »Für ihn, als Erinnerung an seinen Aufenthalt auf dieser Insel … und«, fügte sie noch hinzu, »an mich.« Damit setzte sie sich zurück auf den Hocker vor ihm, zupfte sich den Rock zurecht und sagte: »Und jetzt muss er etwas für mich tun.« Sie beugte sich vor. »Ich möchte, dass er einen Brief für mich schreibt.«
Isaak ahnte, was in dem Brief stehen würde. Als er seine Schreibutensilien hervorgeholt hatte, fragte er: »An wen soll ich den Brief adressieren?«
»Beginne er so: ›Joseph … auch wenn es mir schmeichelt, welche Ehre er mir erweist, indem er mich um meine Hand bittet, muss ich seinen Wunsch doch zurückweisen und ihn auffordern, mir nicht wieder zu schreiben.‹«
Isaak hob seine Feder von dem Pergament vor sich. Wie konnte er sie überzeugen, diese erbärmliche Kreatur zu lieben? »Würde es Josephs Anliegen nützen, wenn ich Euch sagte, dass er ein guter Mann ist und sein Geschäft mit Segeln und Proviant für die anlegenden Schiffe blüht und gedeiht?«
»Nein.«
»Und wenn ich sagte, dass er humorvoll und intelligent ist und Euch für den Rest Eurer Tage froh machen wird?«
»Dann wäre meine Antwort, dass er ein schamloser Lügner ist.«
»Was, wenn ich Euch erklärte, dass er ein richtiger Mann ist, mit der Ausstattung eines jungen Bullen?«
»Selbst wenn er der wortgewandteste Händler auf dem Markt wäre und mir Joseph als wahrhaften Adonis beschreiben würde, könnten seine Worte mich nicht überzeugen. Selbst wenn die Jungfrau vom Himmel herabstiege und mich drängte, Joseph zu heiraten, würde ich nein sagen. Joseph stinkt nach Schafspisse, und es gibt hier nur einen Mann, der mir
Weitere Kostenlose Bücher