Die Hebamme von Venedig
Hannah.
Jessica öffnete das Fenster leise und beugte sich vorsichtig hinaus. »Da sind zwei«, sagte sie, »links und rechts von der Tür, in der Uniform der Prosecuti.« Sie schloss das Fenster wieder, ließ den Vorhang zufallen und lehnte sich gegen die Wand. »Mein Gott, ich bin schwach wie ein Katzenbaby. Ich hole uns jetzt den Wein, den brauchen wir.«
Jessica ging hinaus und Hannah wandte sich dem Kind zu. Matteo schwitzte, die Cremes auf seinem Gesicht waren zerlaufen und gaben ihm das Aussehen einer Wachsfigur, die zu nahe an eine Kerze geraten war. Sie küsste ihn sanft auf den Kopf, und seine blauen Augen fixierten sie.
Jessica kam mit einem Tablett mit zwei Gläsern, einer Karaffe Wein und einem Schälchen Mandeln zurück und stellte es auf den Tisch neben dem Bett. Hannah schenkte ihrer Schwester ein und reichte ihr das Glas. Sie selbst trank noch nicht, sondern ging zur Waschschüssel hinter Jessicas Paravant und entfernte notdürftig die Maske von Gesicht und Händen. Matteo war eingenickt. Ihn würde sie später säubern.
»Gott hat uns eine Atempause gewährt«, sagte Jessica, ließ sich auf einen Stuhl sinken und streckte die Beine aus. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein. »Aber was jetzt? Was sollen wir jetzt tun?«
»Uns fällt schon etwas ein«, sagte Hannah, trocknete sich die Hände und setzte sich aufs Bett. Im Moment konnte sie noch nicht wieder richtig denken. »Wir sind in deinem Haus gefangen, so wie Isaak auf Malta gefangen ist.« Sie fischte ein Stück Mandel aus der Schale und sah Jessica an. »Was ist? Du hast doch schon eine Idee, ich sehe es dir an.«
Jessica nahm noch einen Schluck Wein und grinste. »So schlecht sind die gar nicht.«
»Wer?«, fragte Hannah, die nicht verstand, worauf Jessica hinauswollte.
»Die beiden Soldaten draußen«, sagte ihre Schwester, trat noch einmal ans Fenster und winkte Hannah zu sich heran. Gemeinsam sahen sie auf die beiden Männer hinunter, die sich Brot und Käse in die Mäuler stopften und einen Trinkbeutel Wein umherwandern ließen.
Hannah spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Sieh dir nur an, wie sie sich vollstopfen, diese Rohlinge.«
Jessica lachte. »Zeige mir, wie sich ein Mann bei Tisch benimmt, und ich sage dir, wie er im Bett ist. Die beiden bringen es schnell hinter sich.« Sie gab ihrer Schwester einen Stoß in die Rippen. »So schwer ist es nicht. Mach einfach die Augen zu und stell dir vor, du rollst den Teig für die Hamantaschen zum Purim-Fest aus, und wenn sie fertig sind und mit offenen Mäulern schnarchend auf dem Sofa liegen, fliehen wir.«
»Das könnte ich nie«, flüsterte Hannah, die Angst hatte, die beiden Soldaten könnten sie hören und nach oben sehen.
»Was macht das jetzt noch? Im Übrigen musst du etwas unternehmen, um fliehen zu können, sonst kommt dieses Kind nie zurück zu seiner Mutter und die Balbiana segelt ohne dich nach Malta.«
Jessica steckte sich eine Mandel in den Mund, und Matteo begann sich zu recken. »Sieh nur, unser Prachtkerl wacht auf.«
»Ich liebe ihn jeden Tag mehr«, sagte Hannah. »Es wird schwer sein, ihn seinen Eltern zurückzugeben.«
Matteo fing an zu weinen.
»Kannst du bitte die Ziegenmilch holen? Ich will ihn füttern.« Hannah rieb sich die letzten Reste Gips aus dem Gesicht.
Jessica schleuderte ihre hohen Schuhe mit den Holzsohlen von den Füßen, die ihr eine anmutige Erscheinung geben sollten, aber nicht für schnelle Bewegungen taugten. Sie ging zur Tür und sah sich von dort noch einmal um. »Überlege es dir. Eine rhythmische, reibende Bewegung, und bevor du weißt, wie dir geschieht …«
Hannah hörte Jessicas Kichern, während ihre Schwester auf Strümpfen die Treppe hinuntereilte. Sie ließ sich in die Kissen des Bettes zurücksinken und hielt Matteo vor sich, der wie wild mit den Beinen strampelte. In den vergangenen Tagen hatte Hannah sich oft vorgestellt, wie es sein würde, wenn er ihr eigenes Kind wäre. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, wie Matteo einmal aussehen würde, wenn er älter war: Ob seine Augen wohl so schieferblau blieben und seine Locken so rot? Würde er ein gelehriger Schüler werden?
Die Zeit verging, und Hannah begann sich gerade zu wundern, was Jessica wohl so lange da unten aufhielt, als sie einen lauten Knall hörte, der so klang wie die Explosionen, die manchmal vom Gelände des Arsenale durch die Stadt schallten. Sie legte Matteo aufs Bett und rannte nach unten. Als sie die Haustür erreichte, sah sie, wie
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