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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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sie bitten werde, so hatten die Nachtschatten ihm eingeflüstert, wird sie mich einlassen. Er glaubte es in diesem Augenblick, als sie sich zu ihm umwandte und die Schneeflocken zwischen sie fielen.
    Er wäre sich nicht zu schade gewesen, darum zu betteln, mit ihr unter einem Dach zu sein. Er wollte die gleiche Luft mit ihr atmen, vor ihr auf die Knie fallen, ihre Fesseln umfassen. Auch wenn sie still sitzen bliebe, ohne ihn zu berühren. Nicht einmal sprechen müsste sie, obwohl seine größte Sehnsucht die nach ihrer warmen Stimme war. Wenn sie nur sagte: »Lambert, mein Freund, ich bin weiß Gott nicht mehr in der Blüte meiner Jahre. Was du selbst noch von dir sagen könntest – wärest du in meinem Alter.« Er sehnte sich nach dem spielerischen Ton, danach, als sie noch in einer solchen Leichtigkeit zu ihm gesprochen hatte. Obwohl es schon damals nichts anderes hieß als nein – sie hatte es ihm auf viele Arten immer wieder mitgeteilt.
    Ihr Nein war nach wie vor und für alle Zeit unerbittlich. Es war unerträglich, sie davonfahren zu sehen. Sie war stark, immer schon stärker als er. Lambert, mein Freund, sagte der Nachtschatten. Das ist nichts, was du hinnehmen musst. Geh.
    Es gab nur ihn auf dem Marktplatz, den der Schnee zu einem hellen Ort machte. Wie schön die Stille war. Statt dein Herz zu wecken, sollte ich meins in den Schlaf schicken.
    Es ist an der Zeit, flüsterte der Nachtschatten, die Bekanntschaft mit meinen roten Beeren zu machen. Es wird eine kurze Bekanntschaft sein, doch sie wird Eindruck hinterlassen.
    Auf dem Kräuterboden, da, wo die Pflanzen trockneten, lagen sie in einer staubigen Schachtel. Der Lehrling hatte sie von den Stängeln gestreift, gesammelt und dann vergessen. Zu Zeiten des Provisors Stockmann wäre dergleichen nicht vorgekommen. Bei seinen täglichen Kontrollgängen hätte er sie aufgespürt und im Laboratorium auf der Stelle dem Feuer übergeben. Doch war keinesfalls zu behaupten, dass der junge Apotheker Lambert Fessler den Bestand an Giften in seinem Hause nicht überblickte.
    Zurück im Haus an der Schlosstreppe, hatte er die Beeren trotz des kärglichen Kerzenlichts bald gefunden. Zehn von ihnen reichten, um einen Menschen zu töten. Lambert nahm eine Hand voll zu sich und kaute sie gründlich. Erst schmeckten sie bitter, dann süß.

    Schon nach wenigen Schritten waren die Röcke schwer von Schnee. Doch jeder Schritt, der Anna Textor weiter fortbrachte vom Haus Am Grün, fand sie, war es wert, gegangen zu werden. Nichts konnte sie jetzt aufhalten, selbst wenn sie gewusst hätte, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren würde. Was sie mit Eile vorantrieb, war nicht die Sorge um das Kind, das sie mit sich trug. Was Anna Textor mit Ungeduld dem Armenviertel Marburgs entgegenstreben ließ, war Paulis Geld in ihrem Beutel.
    Hinter ihr blieb das Accouchierhaus mit seinem feuchten, fauligen Dunst in den Kammern, wo Wöchnerinnen und Schwangere sich in großer Enge beieinander aufhielten und heimlich die Zuglöcher gegen die Kälte verstopften. Die Kränklichkeit einiger Säuglinge ließ den Professor Abstand nehmen vom unerlässlichen Lüften, und die Durchfälle der geschwächten Kinder erforderte beständiges Waschen. Die Wäsche sollte, so war es angeordnet, über Glutpfannen auf den Gängen trocknen, doch dies reichte bei weitem nicht hin, bei der täglichen Menge. Man musste den Frauen gestatten, die Wäsche in den Zimmern vor den Öfen in der verunreinigten Luft aufzuhängen – es gab keinen anderen Ausweg, und das forderte mitunter ein Opfer.
    Die Weiber, die Kleidung und Betten – über allem lag ein Geruch. Weder das angeordnete Öffnen der Fenster am Morgen und zur Nacht, wenn der Hausknecht die Öfen mit Brennholz beschickte, noch das Räuchern mit Essig, welches die Hebammenschülerinnen mehrmals am Tag zu besorgen hatten, änderte etwas daran.
    Die nicht enden wollende Arbeit in dieser Zeit war von allen im Haus kaum zu bewältigen. Niemand schien jemals zu schlafen, und immer schien es irgendwo Bewegung zu geben, von der Studierkammer unter dem Dach bis zum Holzlager im Keller. Anna Textor, die sich ihre Medizin – wenn auch in kleinen Mengen – wieder mit alter Schläue bei den Gängen zur Universitätsapotheke zu beschaffen wusste, trug diese nun in all der Betriebsamkeit stets bei sich. Zu diesem Behufe hatte sie sich eigens mit Mühe und gichtigen Fingern einen Beutel genäht, den sie am Rockbund unter der Schürze befestigte, wobei sie darauf achten

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