Die Hebamme
hätte sie gern noch einmal berührt.
Stattdessen flüchtete sich ihre Hand zu dem Herbarium auf dem Tisch, blätterte ziellos eine Seite um und fuhr über die gepressten Blüten der Ruta graveolens . Das Gelbgrün der Rautendolde war verblichen, doch von den kahlen Blättern der getrockneten Pflanze ging noch immer ein leiser, aromatischer Geruch aus.
Anfänglich hatte Elgin es bedauert, dass Lambert ihr Interesse nicht teilte. Er hatte nicht ein Quäntchen von dem Wissensdurst seines Vaters. Was derartige Dinge anging. Doch womöglich war es von Vorteil, dass nicht auch diese Gabe zu haben war.
»Du bist viel zu weit fort, meine Liebste.« Er murmelte in ihr dickes Haar, als wollte er seine Worte darin verstecken.
Wieder lachte sie. Sie musste immer lachen, wenn in seiner Stimme dieser Ton mitschwang. Sie musste lachen, obwohl es sie nicht einmal belustigte.
»Unsere Nähe hier in diesem Zimmer könnte allergrößten Aufruhr auslösen, wenn sie bekannt würde«, sagte sie. »Du wirst meinen, dass ich dich schnell loswerden will, wenn ich dir sage, dass es bald hell wird. Ich aber meine, wir sollten klug sein. Keinem von uns beiden wird es nutzen, wenn man zu fragwürdigen Zeiten einen jungen Mann das Haus der Hebamme verlassen sieht, der bekanntermaßen unverheiratet ist. Noch.«
Sie hinderte ihn daran, den seidenen Stoff über ihren Brüsten auseinander zu schieben.
Er kniete vor ihr und sah ihr ins Gesicht. »Immer weichst du mir aus.«
»Immer? Ist das so?«
»Nein, nicht immer.«
»Lambert, mein Lieber«, sagte Elgin und lauschte ihrer Stimme nach, ob nicht doch ein wenig Ungeduld darin zu hören war. »Du liest zu viele von diesen aufwühlenden Gedichten. Und dann kommt es, dass du dir zu viele Gedanken machst. Oder die falschen. Oder überflüssige.«
»Gedanken, die du nicht ernst nimmst.«
»Aber nein.«
»Weil du es nicht aufgeben willst zu glauben, ich sei zu jung für dich.«
Sie strich ihm eine Locke aus der Stirn.
Er fing ihre Hand ab und küsste die Innenseite.
»Öffne mir dein Herz«, flüsterte er. »Vertrau mir doch.«
»Du mit deinem großen Herzen, du solltest noch ein wenig Platz für deine Verlobte lassen«, sagte sie sanft.
Sie sah in seinem Gesicht den Schmerz auftauchen. Sie widerstand dem Impuls, ihre Hand zurückzuziehen.
»Für mich bedeutet es viel, dich meinen Freund zu nennen, Lambert. Ich glaube, das weißt du gar nicht. Es gibt sonst niemanden hier, den ich so nenne. Ich vertraue dir mehr als sonst jemandem.«
Sie sah in seine Augen, die von einem fleckenlosen Braun waren. Sie konnte sehen, wie er nach der Wahrheit in ihren Worten suchte. Eine andere Wahrheit als jene, die ihr in diesem Augenblick zu Bewusstsein kam.
Ja, sie vertraute ihm. Vielleicht war das schon zu viel.
Jetzt würde sie bald Milch haben, so wie sie es gestern noch erhofft hatte, denn genau um diese Zeit hatte Lene die Stadt verlassen wollen, damit sie am Abend das Dorf erreichen konnte. Sie hatte sich Sätze zurechtgelegt, mit denen sie ihre Mutter für das Kind einnehmen würde, und sich bereitgemacht für die Schläge des Vaters.
Ihre Brüste waren wie heiße Steine. Sie hätte die Hände an ihnen wärmen können, wenn ihr etwas daran gelegen hätte, doch ihr lag an nichts mehr etwas.
Im ersten Licht des Tages fand Lene den Weg zur Lahnbrücke. Es war ganz einfach gewesen, sie hatte gar nicht nachdenken müssen. Sie wollte zum Wasser, und ihr Körper hatte sie dort hingeführt. Sie beugte sich über das hölzerne Geländer im Mittelteil der Brücke, setzte einen Fuß auf einen der Querbalken, um höher zu kommen, und das Rauschen dort unten beruhigte sie. Sie würde nie wieder Angst haben, und sie würde nicht daran verzweifeln, dass sie nichts von dem verstand, was geschehen war.
Der Nachmittag des gestrigen Tages schien eine Ewigkeit zurückzuliegen, und seitdem hatte sie sich unzählige Male verflucht. Mehr als alles, was sie sich vorzuwerfen hatte, bereute sie den Moment, als sie gestern beschlossen hatte, den Abtritt im Hof aufzusuchen, statt ihre Notdurft im Stroh zu verrichten. Es hätte ihr gleichgültig sein sollen, ob sie ihren Dreck unter dem Dach des Töpfers hinterließ, aber sie wollte nichts tun, was die Frau vielleicht noch wütender machte.
Außerdem hatte Lene sich stark gefühlt, als sie bemerkte, dass sich ihre Brüste verhärteten. Immer wieder legte sie ihren Sohn an, wie die Hebamme es ihr gesagt hatte, obwohl er kaum saugte. Er blieb still, vielleicht weil sie
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