Die Hebamme
ihn eng bei sich hielt, und er half ihr damit auf seine Weise, der Kleine.
»Wenn dich jemand hört oder sieht hier im Haus, werde ich keinen Moment zögern, dich anzuzeigen, wie es meine Pflicht ist«, hatte Marietta Schricker gesagt, als sie das letzte Mal bei ihr war.
»Du gehörst in den Weißen Turm für das hier«, hatte sie geflüstert, sodass Lene gleich wieder gefroren hatte, dabei war es doch gestern zum ersten Mal ein warmer Tag gewesen. Viele Stunden konnte sie zusehen, wie sich der Staub auf dem Dachboden in den Sonnenstrahlen fing, und sie war froh gewesen, dass die Frau nicht mehr zurückgekommen war.
Manchmal hatte sie unten etwas gehört und gemeint, es seien Schritte. Dann hatte sie jedes Mal die Luft angehalten und dachte, jetzt kommt sie doch, jetzt hat sie doch Meldung beim Pfarrer gemacht. Als es dämmerte und Lene glaubte, dass alle beim Nachtmahl in der Küche saßen, war sie zur Treppe geschlichen. Sie hatte noch etwas gewartet, um ganz sicher zu sein, dass niemand über den Hof kommen würde.
Felix, der Glückliche, lag in einer Mulde aus Stroh. Sie hatte ihn eng gewickelt, denn sie wusste, dass es die Kinder ruhig hielt, stundenlang, und als sie zurückeilte, die Stufen hinauf, lächelte sie über die Stille. Sie war zufrieden mit ihrem Sohn und dachte, er schliefe immer noch.
Doch er war verschwunden.
Die ganze Nacht hatte sie sich versteckt gehalten, und zunächst war sie in der Nähe des Hauses geblieben. Irgendwann hatte sie es sogar gewagt, zurück in den Hof zu gehen, um unter den Fenstern zu lauschen, ob sie das Weinen ihres Kindes hörte. Sie selbst hatte keine Träne vergossen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, den Verstand zu verlieren.
Niemand würde ihr glauben.
Noch einmal sah Lene zur Stadt hinüber, die über dem Fluss lag wie eine geschlossene Festung. Die Röcke schlugen über ihrem Kopf zusammen, als sie sprang, und das Wasser zog sie mit eisigem Griff in die Tiefe. Sie hatte nicht mal mehr Zeit daran zu denken, dass jemand sie retten könnte.
Im Haus des Richters hatte das Warten begonnen. Schon am frühen Nachmittag war Elgin von eben jener Kalesche abgeholt worden, die zuvor die kleinen Töchter zur Großmutter gebracht hatte. Durchaus Wege, die man hätte laufen können, aber so war es eine Geschäftigkeit, eine aufwändige Bewegung hin zu einem Ziel, das in den kommenden Stunden erreicht werden sollte. Und das war die Geburt eines Sohnes.
Noch wusste man natürlich gar nichts über das zu erwartende Kind, lediglich Elgin hatte in den Voruntersuchungen der hochschwangeren Frau Rat feststellen können, dass es sich bereits in die richtige Stellung gebracht hatte.
Da der Richter um seine Frau außerordentlich besorgt war, hatte er schon bei den ersten schwachen Wehen am Vormittag die Sachen für die Mädchen packen lassen, damit sie das Haus verließen, bevor ihre Mutter den ersten Schmerzenschrei von sich gab, denn auch in diesem Punkt war er äußerst umsichtig. Ihm war es weitaus lieber, die Kleinen im Hause seiner Mutter zu wissen, auf ihrem Schoß sitzend und in ihren Armen schaukelnd, während sie ihnen erzählte, dass die Mama am Rand eines Brunnens vor der Stadt darauf wartete, dass ein Geschwisterchen hinausgefischt und ihr ans Herz gelegt würde.
Nun würde er korrekt gekleidet, mit ungelockertem Halstuch und geknöpfter Weste im Salon auf und ab schreiten, sich nach Anbruch der Dunkelheit hin und wieder einen Schluck Wein gestatten, gelegentlich die Stickereien des Ofenschirmes betrachten, die seine Gattin in den Wintermonaten angefertigt hatte – leider würde sie keine Gelegenheit haben, sein verzweifeltes Interesse an ihren Petit-Point-Landschaften zu bemerken. Nur kurz würde er ab und zu in einem der leichten Sessel mit den ovalen Rückenlehnen Platz nehmen, und erst, wenn die Geschehnisse im Schlafzimmer eine gewisse Betriebsamkeit erahnen ließen, würde sich der Justizrat gestatten, den Gehrock abzulegen. Das Dienstmädchen war angewiesen, ihm Bescheid zu geben, wenn das Kind geboren war. Dann würde er persönlich in die Küche hinuntergehen, um die Köchin zu instruieren, das Nachtmahl oder ein fulminantes Dejeuner für die Gottschalkin herrichten zu lassen. Je nachdem.
Elgin waren die Gewohnheiten des Hausherrn inzwischen bekannt, und sie hatte verneint, als er sie nervös fragte, ob sie Hilfe beim Aufstellen des Gebärstuhls benötigte. Er küsste seine Frau, um sich dann ehrfurchtsvoll zurückzuziehen, als ließe er sie an
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