Die Hebamme
ihr doch ein ungutes Gefühl geblieben seitdem. Wie ein blinder Fleck auf einem Spiegel, den sie nicht besaß.
Sie folgte der Lindenallee, an deren Ende sie die Gärten und Wiesen sich in der Nachmittagssonne ausbreiten sah, und sie sah den offenen Einspänner, der dort auf sie wartete.
Es war eine geradezu unwirkliche Stimmung, die ihr den nächsten Entschluss nahe legte. Körperwarme Luft verdichtete sich zu einem Zirpen, fing sich raschelnd im Grün der Bäume, und die leere Straße roch nach nichts als Staub. Kein Mensch sonst war zu sehen, doch Elgin konnte entfernte Stimmen vom Ufer des Flussarms hören und das Schnauben von Lamberts Pferd.
Während er sich in der kleinen Chaise aufrichtete, um die Allee mit Blicken nach ihr abzusuchen, stand sie schon im Schutz der Bäume. Sie legte sich eine Lüge zurecht und verwarf sie wieder. Eine Debatte mit ihm würde ebenso unerträglich sein wie seine Enttäuschung. Es war ein feiger Moment, in dem sie fürchtete, den Hufschlag seines Pferdes vernehmen zu müssen, das Knirschen der Räder auf dem Sand.
Doch nichts. Lambert würde warten, wie es seine Art war.
Sie verriet ihn, als sie sich in Bewegung setzte und nichts wollte, als so schnell wie möglich ihr Haus erreichen. Sie verriet ihn mit jedem Schritt, der sie von ihm entfernte.
Elgin hatte keine Erinnerung daran, wann in ihrem Leben sie zum letzten Mal gerannt war. Doch jetzt tat sie es, und das Herz schlug ihr wie verrückt.
Sechs
AUGUST 1799
Die Idee mit der Gottschalkin hatte sich in Kilian entwickelt wie eine mögliche Strategie, die ihm jetzt Rettung versprach, nachdem die ungeheuerlichen Vorgänge in der Fakultätssitzung ihn zunächst aufwühlt hatten.
Kilian stand im Auditorium am geöffneten Fenster und schaute hinauf in die gelb gescheckten Wolken, hinter denen ein dichtes Grau aufzog.
Der Angriff hinter den Mauern der Universität hatte sich für ihn vollkommen überraschend entwickelt. Was mit einer peniblen Betrachtung von Einschreibungszahlen begann, war in eine offene Diskussion über die Schließung des Accouchierhauses ausgeufert. Noch jetzt, Stunden später, fühlte Kilian eine gewisse Unruhe. Es hatte ihn Mühe gekostet, gelassen aufzutreten, um nicht vor den anderen Professoren in eine klägliche Defensive zu geraten.
Schon Tage zuvor musste er um eine optimistische Haltung ringen, als ihn endlich die ausweichende Antwort des Landgrafen erreichte. Dass er das Schreiben heute vorlegen konnte, ließ die Sitzungsteilnehmer immerhin von weiteren Attacken Abstand nehmen.
Der Landesherr hatte ihn wissen lassen, dass er zunächst mit Berichten und Protokollen aus dem Gebärhaus versorgt werden wollte, bevor er den Erlass von Unzuchtstrafen und weitere Zuschüsse in Erwägung ziehen konnte. Kilian befand, es ließ hoffen, dass er sich ein Bild machen wollte.
»Allein, wovon?«, hatten die Herren der Anatomie sarkastisch angemerkt. Ausgerechnet. Kilian hatte das ohne Anstrengung parieren können. Die Menschen vergaßen so schnell, auch Gelehrte. Traurig, dass er einen Lehrer der medizinischen Fakultät daran erinnern musste, dass nicht zuletzt die Anatomie sich die landesherrliche Unterstützung mühsam hatte erkämpfen müssen. Rangen sie nicht immer noch um ihr öffentliches Ansehen? Gab es nicht noch heute Unfrieden und Mängel, was die Leichenbeschaffung anging?
»Nur viele Leichen bedeuten Ruhm.« Dauerklage der Anatomen. Er würde sie sofort unterschreiben. Nun? Florierte die Anatomie? Gab es genug Leichen für die Lehre?
Man hatte es vorgezogen, darauf nicht zu antworten.
Die Konkurrenz unter Ordinarien und Professoren: Er kannte das alles aus Kassel, er hörte es aus Jena und Göttingen, Jahrzehnte nun schon begleiteten ihn kleinliche Auseinandersetzungen und Anfeindungen, wobei es immer nur darum gehen sollte, den Ruf der Universitäten zu mehren. Herrgott, man mochte kaum glauben, dass dergleichen im Namen großer Ideen geschah.
Kilian betrachtete seine Hände, bevor er sie in weitem Abstand voneinander auf das Fensterbrett stützte, die schwüle Abendluft in seine Lungen sog, seinen Brustkorb sich ausdehnen ließ und beschloss, dass er zu alt und zu erfahren war, um die Niedertracht einiger seiner Kollegen persönlich zu nehmen.
Es war ihm nicht entgangen, dass man ausnahmslos von einem nur kurzfristigen Aufschub der Sache ausging. Sie kannten ihn schlecht und dachten wohl, dass er bereits am Ende seiner Möglichkeiten angekommen war. Die Herren ahnten nicht, dass er
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