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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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Geheimnis gelüftet, und es stellte sich heraus, dass es ein friedliches ist.«
    Sie konnte den Blick nicht von dem Blatt lösen, und so bemerkte sie nicht, wie interessiert Büttner sie beobachtete.
    »Wie konnten Sie nur zu diesem Ergebnis kommen? Haben Sie das Anatomische Theater aufgesucht?«
    »Zunächst, ja. Dort habe ich meine ersten Skizzen gemacht. Sehen Sie, diese hier.«
    Auf seinem Arbeitstisch waren Zeichenblätter ausgebreitet, die andere, darunter liegende, verdeckten, es mussten zwischen zwanzig und dreißig sein. Selbst seine mit Kreide hingeworfenen Entwürfe wirkten greifbar, plastisch, nur der Begriff lebendig, der sich aufdrängte, konnte hier nicht passen. Elgin betrachtete die Skizze, die Büttner zwischen den Bögen herausgesucht hatte.
    »Mit diesem hier habe ich den Anfang gemacht, ein Neugeborenes. Sie hatten es erst vor kurzem präpariert. Haben Sie das schon einmal gesehen, wie eingezwängt diese Wesen in ihren Glasbehältern wirken?«
    Elgin nahm das Blatt zur Hand, betrachtete das Kind, einen kleinen Jungen, wie sie schon so viele gesehen hatte und dessen Gesicht sie doch in einer seltsamen Weise berührte, vielleicht weil es Büttner gelungen war, ein schlafendes Gesicht darzustellen, wo er ein totes gesehen hatte.
    »Dieses Kind befand sich in einem Glas?«
    »Ja, wie alle anderen auch, die ich gezeichnet habe.«
    »Man sieht es nicht.«
    »Finden Sie?« Büttner beugte sich mit ihr über das Blatt. »Der kleine Bursche hier hat es mir besonders schwer gemacht, nicht nur weil er mein erstes Modell war. Der arme Kleine, er weckte den Wunsch in mir, ihn zu befreien. Doch das hat möglicherweise auch sehr persönliche Gründe …«
    Sie sah ihn an. »Was meinen Sie?«
    »Später, Gottschalkin, später.« Seine Augen blieben auf die Zeichnung geheftet. »Nein, tatsächlich habe ich nachgefragt, ob es möglich sei, das Kind für eine kurze Zeit aus dem Glas zu nehmen. Ich hätte es gern mit dem Zirkel vermessen, um die Proportionen in natürlicher Größe zu übertragen, verstehen Sie? Man sagte mir, das sei schlechterdings nicht möglich, weil das Material zu leiden hätte. Nun ja. Dieser kleine Körper. Hautfalten und kleine Deformationen, die allein durch seine zusammengeschnurrte Position im Behälter zustande kamen, musste ich mir also wegdenken. Ich musste sehen, was ausgedrückt werden sollte, und nicht, was ich vor mir hatte.«
    »Das allerdings ist Ihnen gelungen.«
    Sie drehte die Zeichnung. »Wenn man es so betrachtet, wird es der natürlichen Haltung im Mutterleib schon sehr ähnlich. Und was die unterschiedlichen Kindslagen unter der Geburt angeht …«
    »Kommen Sie, Gottschalkin, setzen Sie sich«, sagte Büttner und zog einen Hocker heran.
    »Ich bin wirklich ein unhöflicher alter Kerl.«
    Wie immer, wenn sie lange stand, hatte sie eine Hand stützend ins Kreuz gelegt; es war ihr so zur Gewohnheit geworden, dass sie es gar nicht mehr bemerkte, wenn sie es tat. Büttner dagegen war es offenbar aufgefallen, und sie nahm gern auf seinem Arbeitsstuhl Platz.
    »Durch einen Zufall hatte ich Gelegenheit, noch andere Studien zu betreiben. Und möglicherweise können Sie etwas damit anfangen«, sagte er.
    Von einem aufmerksamen Studenten, der ihn bei der Arbeit gesehen hatte, erzählte Büttner, während er eine Reihe weiterer Blätter vor ihr ausbreitete, war er davon unterrichtet worden, dass in Marburg noch eine deutlich umfangreichere Embryonensammlung zu finden sei.
    »Ein Accouchierhaus. Sie wissen sicher davon. Ich hatte noch nie von dergleichen gehört.«
    »Ich weiß, dass es dieses Haus gibt. Aber ich kenne es nicht.«
    »Ein merkwürdiger Ort.« Büttner sortierte neben ihr seine Zeichnungen immer wieder aufs Neue, während Elgin an Lene Schindler dachte, für die es ein Ort zum Davonlaufen gewesen war.
    »Aber Kilian, dieser Professor – ein zuvorkommender Mann, dem ich nicht lange erklären musste, worauf es mir ankam. Er interessierte sich sehr dafür, woran ich arbeite. Und seine Sammlung ist wirklich beeindruckend – auch berührend, muss ich sagen.«
    Er nahm ihr das Bildnis des Neugeborenen ab, das immer noch in ihrer Hand über dem Tisch schwebte.
    »Für mich, der sich mit dieser besonderen Darstellung menschlicher Existenz erst vertraut machen musste, war es … ja, es war überwältigend zu sehen, wie perfekt er angelegt ist, der Mensch, schon zu einer Zeit, da wir noch nichts von ihm ahnen, da wir noch gar nicht wissen können, dass es ihn bereits gibt.

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