Die Heilanstalt (German Edition)
nicht, wie sein bisheriges Leben aussah, erinnerte sich nicht an gestern, kannte sich faktisch selbst nicht. Gerade dieser bedenkliche Umstand aber, der ihm kürzlich noch wahre Furcht bereitet hatte, kümmerte ihn nicht mehr und lag wie ein versunkenes Schiffswrack an einer unerreichbar tiefen Stelle seines Unterbewusstseins. Derzeit wusste Patrick nur noch zwei Dinge, die allein in seinem Verstand übrig geblieben waren und sein restliches Denken begründeten: Zum einen benötigte er den Tee für seine Genesung, zum anderen musste er den Konsum vor Melanie verheimlichen.
So war es um ihre Innenwelten bestellt, während Melanie und Patrick am frühen Nachmittag im hübsch hergerichteten Hof ruhten und untätig die Zeit verstreichen ließen. Aber so verschiedenartig ihre Gedanken auch gestrickt waren (sofern man in Patricks Fall noch von Gedanken im eigentlichen Sinne sprechen konnte), so sehr ähnelte sich doch das Resultat derselben: Sie beide sprachen dem Sanatorium alles unterschwellig Düstere ab, sorgten sich nicht mehr um etwaige Rätselhaftigkeiten, die hinter der hellen Fassade liegen mochten, und fügten sich so reibungslos wie zwei gut geschmierte Zahnrädchen in das große Getriebe der Heilanstalt.
An diesem Zustand änderte sich auch im weiteren Verlauf des Tages nichts.
Sie verbrachten noch etwa zwanzig Minuten im Hof und verließen ihn, als Patrick aus seinem Nickerchen erwachte und mit rauer Stimme erklärte, dass er noch einmal zur Toilette müsse. In Wahrheit dürstete ihn schon wieder, schrie sein Inneres nach dem Tee, pochte seine übermächtige Sucht nach Befriedigung. Patrick entschuldigte sich, stand auf und begab sich zum Unterhaltungszentrum, um sich dort – anstatt die Herrentoilette aufzusuchen – an die Thekenbediensteten zu wenden. Als er zurückkam, seufzte er vor Erleichterung und gab vor, dass es um ein Haar in die Hose gegangen wäre. Wenn auch ihre Ursache erlogen war, so war die Erleichterung selbst doch echt und somit glaubhaft. Melanie stellte keine Fragen und tat es auch während der folgenden Stunden nicht, in denen Patrick wieder und wieder Ausflüchte fand, um den Tee außerhalb ihrer Beobachtung zu ergattern. Zahllose Gelegenheiten fädelte er ein, um heimlich zu trinken, derweil er sich stets an die Dosis des halben Bechers hielt, um den Rausch möglichst gering zu halten. Regelmäßig gelang es ihm, Melanie zu täuschen, obgleich es naturgemäß nicht einfach sein konnte. Doch es heißt, Not mache erfinderisch, und Patrick bewies die Richtigkeit dieser Redewendung ein ums andere Mal auf anerkennenswerte Weise. Der Gang zur Toilette war der häufigste Vorwand, sich von Melanie zu entfernen. Doch Patrick ersann darüber hinaus natürlich noch andere, die er erstaunlich raffiniert zu variieren verstand.
Melanie schöpfte nie Verdacht. Dass Patrick den Tee in ihrer Abwesenheit trank, mochte gedanklich noch so leicht zu folgern sein; solang sie es nicht mit eigenen Augen sah, blieb ihre Wirklichkeit davon unberührt. In Melanies strikt phänomenologischer Wahrheitsauffassung war kein Platz für Spekulation und Mutmaßung. Alles Unsichtbare war für sie nichtig; nur, was unmittelbar durch die Sinneswahrnehmung in ihr Bewusstsein drang, wurde Teil ihrer Welt.
Allerdings, wenn Patrick sich einmal die Nachlässigkeit erlaubte, die Theke aufzusuchen, ohne sich weit genug von Melanie zu entfernen und ihr Blickfeld ganz zu verlassen, so drehte sie den Kopf vorübergehend zur Seite, um ihn nicht trinken zu sehen. So lässt sich kaum verleugnen, dass Melanie ihre Wahrheit manchmal wie eine Säule stützte, wenn diese in sich einzustürzen drohte. Aber obwohl dieses Verhalten den starken Beigeschmack des Selbstbetrugs besaß, gelang es Melanie auf diese Weise, ihr Glücksempfinden dauerhaft zu festigen. Denn tatsächlich kam sie Patrick bis zum Abend näher, als sie es ohnehin schon war; um 15 Uhr nahmen sie als gemischtes Doppel am angekündigten Tischtennisturnier teil, belegten den vorletzten Platz und lachten über ihr miserables Abschneiden. Im Anschluss drehten sie zur Muskellockerung einige Runden im Hallenbad (als Patrick in sein Zimmer eilte, um die Badehose aus dem Schrank zu holen, erhielt er eine weitere Gelegenheit zum Teetrinken) und entspannten daraufhin einige Zeit im benachbarten Ruhezimmer auf zwei Liegen, die sie zuvor eng zusammengeschoben hatten. Auch Patrick nahm trotz des Teerauschs, von dem er durchweg umwoben war, Notiz von der emotionalen Bindung, die
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