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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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zwischen ihm und Melanie im Entstehen war und die, das wussten sie beide, auf kurz oder lang über bloße Freundschaft hinausgehen würde. Wenn sie einander ansahen, geschah es auf jene einerseits verhaltene und andererseits zärtlich zugetane Weise frisch Verliebter. Zwar konnte von ausgereifter Liebe zwischen ihnen noch keine Rede sein – wie wäre dies auch möglich nach so kurzer Zeit? – doch verlief ihr gemeinsamer Weg so vorbestimmt wie auf Schienen in eben diese Richtung.
    Nach dem Aufenthalt im Erholungsbereich schlenderten sie eine Weile in der weitläufigen Anstalt umher, ohne festes Ziel und einzig zum Zweck des gemeinsamen Spaziergangs. Hin und wieder gingen sie Hand in Hand, anstatt wie zuvor nur mit eingehakten Armen, und tauschten bisweilen gar manche Zärtlichkeit aus, indem sie des anderen Wange streichelten, einander mit flacher Hand über den Rücken strichen oder sich eng aneinander schmiegten, wenn auch all das noch unter dem Deckmantel der Freundschaft geschah.
    Nach ihrem ausgedehnten Rundgang fanden sie sich schließlich wieder im Hof ein und nahmen wie zuvor auf einer der Bänke Platz. Melanie sah ihn verträumt an und fühlte sich auf ihre Weise berauscht, ohne von dem Tee gekostet zu haben.
    »Du bist ein lieber Kerl«, sagte sie.
    »Du auch«, erwiderte Patrick ein wenig lallend, da er kurz zuvor im Verborgenen wieder einen halben Becher des Tees getrunken hatte. Zögernd ließ er Revue passieren, was er gesagt hatte, und begann auf einmal prustend zu lachen. »Ein liebes Mädel , meinte ich!«
    Obwohl der Versprecher nicht besonders lustig war, konnte Melanie nicht anders als in sein Lachen einzustimmen, als würde seine Freude wie ein Funke auf sie überspringen. Nachdem sie sich beruhigt hatten, sahen sie einander lächelnd an. Melanie blickte ihm direkt in die Augen, die so schrecklich gläsern waren und inzwischen sogar etwas Milchiges hatten. Sie schenkte diesen Details keine Beachtung, übersah sie ganz einfach, als wären sie nicht vorhanden, und betrachtete nur jenen Menschen, für den sie ernste Gefühle entwickelte, die er spürbar erwiderte.
    Patrick fiel es nicht leicht, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten, da sein Gesichtsfeld wie ein müder Kreisel leicht rotierte. Aber inzwischen war er darin geübt, den Rausch zu verbergen, und schaffte es daher ohne Auffälligkeiten, Melanie anzusehen.
    Ein langes Schweigen kam auf, das keiner zu brechen gewillt war. Sie genossen den Augenkontakt und fühlten sich auf diese Weise im Geiste verbunden, sodass Worte nicht länger vonnöten waren. Indessen klang Patricks Rauschzustand ein wenig ab, und sein Denkvermögen kehrte ein Stück weit zurück.
    Da wurde er auf einmal der Klarheit ihrer Augen gewahr, sah Melanies ungetrübten, lebendigen Blick und wusste in einem tiefen Winkel seines noch halb betäubten Verstandes, dass sein eigener Blick sich von ihrem unterschied, dass ihn etwas befallen hatte, etwas Virusartiges, eine Krankheit, die vielleicht unheilbar war, ein bösartiger Tumor, den kein Chirurg entfernen konnte. Und diese Erkrankung stammte von dem Tee; er hatte etwas Ansteckendes, etwas hoch Infektiöses wie eine gefährliche Bakterienkultur.
    Patrick war sich dessen jedoch nicht derart klar bewusst und hätte es nicht so dezidiert in Worte fassen können; zwar war sein Verstand nicht mehr völlig eingefroren, aber auch lange noch nicht wieder ganz aufgetaut. Patrick war weit davon entfernt, die Dinge überschauen und zu einem sinnstiftenden Gesamtbild fügen zu können. Aber immerhin fühlte er, dass etwas Schlimmes mit ihm vorging, spürte es so deutlich wie einen Dorn, der in seinem Herzen steckte.
    Patrick blickte auf einmal traurig drein und sah Melanie mit einem flehenden Ausdruck an, als wollte er sagen: Etwas ist mit mir, siehst du es denn nicht? Etwas ist mit all den Leuten hier, und du allein scheinst davon ausgenommen. Also hilf mir doch, hilf uns allen, ich bitte dich!
    Natürlich sah Melanie es, konnte es gar nicht übersehen, und erinnerte sich plötzlich an jene Frau, der sie zuvor auf der Toilette begegnet war, die sie ebenso flehend angesehen hatte, wie nun Patrick, und etwas gemurmelt hatte, das zunächst unverständlich gewesen war, aber bei genauem Hinhören wie Hilfe geklungen hatte.
    Auch Melanie sah bedrückt aus und öffnete zögerlich den Mund.
    Nun gut, Schluss mit dem Spiel , wollte sie sagen. Lass uns ehrlich sein und die Dinge sehen, wie sie sind. In dieser angeblichen Heilanstalt werden die

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