Die Heilanstalt (German Edition)
Stimme: Sieh ihn dir doch an, Patrick ist genauso, wie du ihn heute Morgen beim Frühstück angetroffen hast, völlig unverändert und bei klarem Verstand. Nichts Ungewöhnliches ist mit ihm vorgegangen, auch beim Bowling war er ganz der nette junge Mann, als den du ihn kennengelernt hast .
»Ja«, hauchte Melanie mit kaum merklicher Lippenbewegung. »So hab ich ihn kennengelernt.«
Patrick wechselte säuselnd die Stellung und ließ den Kopf leblos zur Seite baumeln.
Es gab etwas, das Melanie in den vergangenen Stunden beinah zu der Überzeugung geführt hätte, dass ihre schlimmen Ahnungen zutrafen: Erstmals hatte sie einen neuen Patienten von Anbeginn seines Aufenthalts begleitet und die Wandlung beobachtet, die er durchlebte. Diese Wandlung hatte sie eine Weile als sicheren Beweis für die dunklen Kräfte erachtet, die hinter der Fassade des Sanatoriums walteten. Patrick war zu Beginn ein schüchterner und duldsamer Bursche gewesen, ganz höflich und besonnen. Doch im Laufe des Tages hatte er sich mehr und mehr verändert; den ersten Schrecken hatte Patrick ihr eingejagt, als er wie von Sinnen aus dem Wandelgarten geflüchtet und geradewegs zum Speisesaal gelaufen war, um einen Becher Tee zu trinken. Ein beängstigender Rausch schien ihn anschließend befallen zu haben, der sich zwar rasch gelegt, aber doch eine sichtbare Spur in Form des glasigen Blickes hinterlassen hatte, wie Melanie ihn von Anfang an bei sämtlichen Patienten und sogar bei ihrem Therapeuten bemerkt hatte. Waren Patricks Augen bereits beim Frühstück, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, so gläsern gewesen? Das vermochte sie nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen. Dennoch hatte eine gewisse Zeit lang für Melanie festgestanden, dass Patrick nicht mehr er selbst war, wenn er den Tee trank, so als ergriffe eine fremde Macht von ihm Besitz. Von Anbeginn hatte Melanie gemutmaßt, dass der Tee die Menschen veränderte, dass er sie ihres Willens beraubte und sie abhängig machte. Im Laufe des heutigen Tages, während sie Patrick begleitet und seine Entwicklung verfolgt hatte, war diese Annahme so weit an die Oberfläche gedrungen, dass sie fast als schmerzliche Gewissheit in Melanies Bewusstsein vorgestoßen wäre. Doch dann war Patrick völlig unerwartet ihrem Wunsch nachgekommen, den Tee nicht länger anzurühren. Dies war wie ein Gegenbeweis gewesen zu allem, was Melanie beinah als gesicherte Tatsache anerkannt hätte. Überdies kam entkräftend hinzu, dass Patrick seither kein befremdliches Verhalten mehr an den Tag gelegt hatte; während des Bowlingspiels hatte er sich ganz normal benommen, wenn auch ausgelassener als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Dies aber ließ sich leicht auf eine anfängliche Schüchternheit zurückführen, die sich inzwischen gelegt hatte.
Kurz, die Vernunft hatte vorübergehend im Begriff gestanden, die Oberhand zu gewinnen und Melanie endgültig bewusst werden zu lassen, was aller Logik nach wahr sein musste, was sie im Grunde immer gewusst hatte, aber sich nicht eingestehen wollte, worauf alles hindeutete und was mit klarem Blick kaum zu übersehen war. Doch die Stimme der Vernunft verstummt, wenn jene des Herzens spricht: Fraglos fühlte Melanie sich zu Patrick hingezogen, ja empfand so viel für ihn, wie es nach nur einem halben Tag überhaupt möglich war. Seine einerseits zurückhaltende, andererseits neckisch humorvolle Art behagte und imponierte ihr.
Melanie betrachtete wieder den friedlich schlafenden Patrick und fühlte eine angenehme Wärme durch ihr Inneres fließen. Sie wollte, dass alles so war, wie die beruhigende Stimme in ihrem Kopf es ihr beteuerte. Sie wollte Melanie Kahlbach sein, die nur einen kleinen Arbeitsunfall hatte und zur Erholung in diesem Sanatorium war. Sie wollte, dass diese Anstalt ein gewöhnlicher Kurort war, an dem sie einem tollen jungen Mann begegnet war. Ein Mann, der sich zu benehmen wusste, der sie zum Lachen brachte und nicht zuletzt imstande war, durch sein bloßes Zugegensein ihr Herz höher schlagen zu lassen. Melanie fühlte sich wohl an seiner Seite und wollte nichts mehr wissen von all dem, was sie in den vergangenen Stunden beschäftigt hatte. Es stand ihrem Glück wie ein Hindernis im Weg. Und da jeder Mensch in seiner eigenen Wahrheit lebt, die stets aus der Summe dessen besteht, was er zu glauben bereit ist, war es unvermeidlich, dass Melanie die unbequeme Stimme der Vernunft zum Schweigen brachte und zuletzt nur noch jene Gedanken zuließ, die die andere
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