Die Heilanstalt (German Edition)
Stimme, jene der Besänftigung, ihr ins Ohr säuselte.
Was Patrick betraf, so verweilte er in dem Glauben, er verhalte sich Melanie gegenüber rücksichtsvoll, indem er ihr vorspielte, den Tee nicht länger zu konsumieren. Selbstverständlich tat er es heimlich doch. Allerdings trank er stets nur so viel, bis der Drang, der von Zeit zu Zeit über ihn kam, gebändigt und der Schmerz hinreichend gelindert war. Anschließend ließ er den restlichen Tee diszipliniert stehen, um einen zu deutlichen Rausch zu vermeiden, den Melanie sofort bemerken würde. Derzeit genügte Patrick ein halber Becher, um diesen Punkt zu erreichen, doch er ahnte, dass er schon bald für das gleiche Ergebnis mehr benötigen würde.
Natürlich sah Melanie ihm die üblichen Symptome an: den leeren Blick, die gläsernen Augen, das verklärte Grinsen und die Zerstreutheit. Aber trotz dieser Begleiterscheinungen konnte Patrick aufgrund des gemäßigten Konsums ein allzu rauschhaftes Verhalten vermeiden und gegenüber Melanie den Schein wahren, er wäre abstinent.
Zwar zeigte Melanie eine gewisse Naivität, indem sie Patricks Schauspiel so einfach glaubte, aber er tat es wirklich geschickt, und Melanie strickte nun einmal ihre eigene Wahrheit, aus der sie alles ausblendete, was ihr Angst machte. Melanie wollte nur noch an das glauben, was sie unmittelbar vor sich sah, was sie riechen, fühlen und schmecken konnte. Sie hielt sich konsequent an das sinnlich Wahrnehmbare, was ihr vernünftiger erschien, als den unwirklichen Bildern in ihrem Kopf nachzugeben.
Ihr Name war Melanie Kahlbach: Dies war sichtbar und fühlbar in ihr weißes Gewand eingenäht. Sie berührte die Buchstaben, strich mit dem Zeigefinger über sie, folgte mit Genugtuung ihren unverrückbaren Linien.
Dieses Sanatorium war eine wunderschöne Einrichtung, in der nichts böse oder düster war: Der Hof war von hellem Licht erfüllt und alles in reinem Weiß gehalten. Melanie sah sich mit einem beruhigten Lächeln um, betrachtete die rauschenden Springbrunnen, ließ den Blick eine Weile auf der großen, alten Linde ruhen und vergewisserte sich, dass all das echt war. Sie sah diese herrliche Umgebung unbestreitbar vor sich, hörte das Geplauder der Leute und das Gezwitscher der im Astwerk sich tummelnden Vögel; sie sog in tiefen Atemzügen die Luft ein, die so frisch und warm war wie in einem Waldgebiet im Frühsommer.
Melanie hatte in dieser Heilanstalt einen freundlichen, jungen Mann kennengelernt, dessen Nähe sie glücklich machte: Patrick vervollständigte ihre Wahrheit, er saß gleich neben ihr auf der Bank, sie sah ihn an, hörte ihn atmen, glaubte sogar, seine Körperwärme zu spüren. Melanie traute sich um der endgültigen Überzeugung willen, sanft seine Wange zu streicheln, worauf er leise murrte und sich unruhig im Schlaf rekelte. Melanie schmunzelte vor innerer Bestätigung. Patrick existierte, diese wunderbare Anstalt existierte, die anderen Patienten existierten, sie selbst existierte … und ihr Name war Melanie Kahlbach. Dies war die Wahrheit, die sich aus ihren Sinneseindrücken ergab, die sie sehen, hören, fühlen und riechen konnte, während alles andere, jene dunkle Welt und jenes zweite Leben, nur aus unklaren Erinnerungen bestand und somit aller Wahrscheinlichkeit und Vernunft nach nur eine Einbildung war.
Auf diese Weise trennte Melanie zwischen wahr und unwahr und erschloss sich so ihre eigene Wirklichkeit, die durchaus rational war und letztlich auf strikter Logik basierte. Vor diesem Hintergrund relativiert sich ihre scheinbare Naivität und wird erklärbar, wie sie über all die Unheimlichkeiten des Sanatoriums hinwegsehen konnte, die schon Patrick vor einigen Stunden festgestellt und hinterfragt hatte, als sein Verstand noch ungetrübt gewesen war.
Inzwischen war Patrick jedoch hoffnungslos in die abgrundtiefe Macht des Tees hinabgestürzt, konnte zwar noch die Menge des Konsums steuern, aber den Konsum selbst schon nicht mehr ganz unterlassen. Patrick, der noch am Vormittag ein gesundes Kritikvermögen besessen und wichtige Fragen gestellt hatte, hatte die Fähigkeit des zusammenhängenden Denkens verloren und war fest in das Programm des Sanatoriums eingesponnen. Er befand sich in der Vorstufe jener Gedankenstarre, die alle Patienten hier – ansatzweise oder fortgeschritten – aufwiesen, und glaubte an die Notwendigkeit seiner Heilung, wenn er auch nicht einmal sagen konnte, was ihm eigentlich fehlte. Mehr noch, Patrick wusste noch immer
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