Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
Vom Netzwerk:
nur ein Blendwerk!«, fiel Janick der Kreatur wütend ins Wort. »Die Menschen, die eurer Illusion verfallen, bilden sich bloß ein, im Glück zu schwelgen, während sie in Wahrheit ihren freien Willen verlieren und zu Gefangenen werden.«
    »Was ist Wahrheit?«, fragte der Herr gelassen. »Schwerlich das, was wirklich ist. Vielmehr nur, worauf der Glaube zielt. Die Wahrheit ist nicht allumfassend und für jeden gleich, sondern steht am Ende einer persönlichen Suche; sie ist wie der Heilige Gral, von dem eure Mythen erzählen, ein rätselhaftes Etwas, das sich jedem in anderer Gestalt offenbart. Seit Jahrzehnten haust ihr ängstlich in eurer Siedlung und leidet unter Hunger und Kälte.
    Wir bieten euch eine Welt von ungekannter Schönheit, einen Ort frei von Not und Elend. Unser Reich ist ein vollendetes Paradies, in dem die Menschen ihre Erlösung finden und in den Momenten weiterleben, in denen sie am glücklichsten waren. Mag die Wirklichkeit eine andere sein! Wer an unsere Welt glaubt , der findet zu einer neuen und besseren Wahrheit.«
    »Lügner!«, schrie Janick und wollte sich aufbäumen, doch er wurde von den Lederschnallen ruckartig zurückgehalten. »Die Wahrheit ist etwas Persönliches und lässt sich von keiner fremden Hand einspeisen. Sie entspringt in den Tiefen unserer Seele und besteht aus unseren Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Unsere Wahrheit ergibt sich daraus, was wir sind, wer wir sind, wie wir denken, handeln und fühlen. Diesen einzigartigen Schatz – unsere Seele  – raubt ihr uns!«
    Der Herr zuckte unbeeindruckt mit den schmalen Schultern.
    »Rauben wir sie euch oder gebt ihr sie aus freien Stücken her? Unsere Illusion, wie du sie nennst, wäre außerstande, die Menschen zu halten, wenn sie sich nicht freiwillig in sie fügten. So wie die Hypnose nur bei denen wirkt, die sich auf den Zauber einlassen. Die Seele der Menschen, die du als ihre einzige Wahrheit begreifst, erscheint ihnen wohl entbehrlich für ein behaglicheres Dasein.«
    Janicks Mundwinkel fielen zitternd herab. »Die meisten Menschen sind schwach und wissen nicht, was sie tun.«
    Der Herr neigte sich mit einem hässlichen Grinsen zu Janick hinab und sah ihn prüfend an. »Du hingegen bist stark und würdest deine Seele niemals hergeben?«
    »Niemals!«, rief Janick. »Nur deshalb ist es mir gelungen, eurer Scheinwelt zu entkommen.«
    Der Herr zog die Brauen zusammen und richtete sich schweigend wieder auf. Es erfüllte ihn mit Unbehagen, dass dieser Mensch so mühelos den klaren Blick bewahrte und der Verlockung widerstand. Es war ihm am liebsten, wenn seine Opfer freiwillig ihren Geist hergaben; umso süßer schmeckte die menschliche Innenwelt, wenn sie ohne Furcht und Abscheu war.
    Doch diesmal ließ sich mit verführerischer List bei aller Mühe nichts gewinnen. Das Wesen, das Gefallen an den Sagen und Mythen der Menschheit gefunden hatte, verglich sich gern mit dem Rattenfänger von Hameln, dessen betörender Flötenmusik die Kinder wie vernunftlose Nagetiere nachtrabten.
    Doch manchmal geschah es, dass eine Menschenseele so widerspenstig war, dass sie sich vom Rausch befreite und ihre Vernunft aus dem Dämmerschlaf erwachte. Für gewöhnlich riss eine mächtige Emotion den Geist wieder herab, nachdem er fügsam aufzustreben begann. Die Gefühle waren ein fester Bestandteil der menschlichen Seele und erwiesen sich bisweilen als nahezu unbändig. Manche Menschen sträubten sich bis zuletzt gegen den verzaubernden Reiz und weigerten sich, ins hohe Reich aufzusteigen. Doch wer nicht aus freiem Willen dem Ruf folgte, brauchte eben den rechten Zwang. Was diesen Seelen solche Kraft zum Widerstand verlieh, ließ sich stets als Druckmittel gegen sie verwenden, sobald es nur bekannt war.
    Der Herr blickte mit verschmitzter Miene auf Janick; auch diesem Menschen würde die Macht seines Geistes letztlich zum Verhängnis werden, wenn ihre Wurzel erst entdeckt wäre. Und so schloss das Wesen die Augen und ging schweigend in sich, ganz wie vorhin, bevor es seine Gestalt veränderte; der Missmut in seinem Gesicht schwand, die Mimik erschlaffte. Der Herr wirkte wie ein Roboter, der mit einem kniffligen Problem konfrontiert war und seinen Speicher nach nützlichem Material für die Lösung durchwühlte.
    Als er offenbar fündig wurde, glitt ein Zucken durch sein Gesicht, als wäre ein elektrischer Impuls durch seinen Schädel gefahren. Abrupt schlug er das rote Augenpaar wieder auf und grinste so niederträchtig wie ein Kind,

Weitere Kostenlose Bücher