Die Heilanstalt (German Edition)
in Aussicht stand, vertrauten die Menschen auf heraneilende Ärzte, so sonderbar deren Methoden auch waren. Nichts lag somit näher, als ihnen die Illusion einer Erkrankung aufzuerlegen und sie glauben zu lassen, sie würden in einer Heilanstalt der Genesung entgegeneilen. Natürlich geschah dies tief unter der Erde, in sicherer Entfernung von der entlarvenden Außenwelt. Um den Eindruck des lebendigen Begräbnisses zu vermeiden, war das Sanatorium der freien Natur nachempfunden: Tagsüber strahlte helles Licht, das wie die Sonne zur Abendstunde erlosch und früh morgens wiederkehrte; ein Wandelgarten ersetzte Spaziergänge in den Wäldern; die Kreaturen kannten das menschliche Bedürfnis nach Reinlichkeit und boten ihnen in strahlend weißen Räumen blitzende Hygiene; sie wussten, was die Menschen gerne aßen, und tischten ihnen dreimal täglich nur vom Feinsten auf; sie befriedigten den menschlichen Spieltrieb, indem sie abwechslungsreiche Unterhaltung für jedermann boten; sie wussten, wie gern die Menschen sich entspannten, und schufen ihnen luxuriöse Erholungsorte. Nie war einer Fliege so wohl im Netz der Spinne, nie war ein Schwein so glücklich auf dem Weg zur Schlachtbank. Die Menschen waren todgeweiht, doch sie wähnten sich im größten Glück ihres Lebens.
Es war ein ausgeklügeltes System, das diese Kreaturen erschaffen hatten, eine bis ins kleinste Detail durchdachte Täuschung. Und doch vermochten hin und wieder Menschen aus der Scheinwelt auszubrechen, außergewöhnlich starke Seelen, deren Emotionen sich durch kein Rauschmittel dauerhaft unterdrücken ließen. Gefühle dieser Art waren von solcher Lebenskraft, dass sie auf kurz oder lang jeden Schwindel überwanden. Sie waren die größte Gefahr für das gewissenhaft konstruierte Trugbild, denn sie waren imstande, die Kulissen einzureißen und die dahinterliegende Wahrheit zu offenbaren. Menschenseelen von solcher Stärke waren den Kreaturen ein Dorn im Auge und zugleich ihre größte Begierde. Sie waren für sie eine so kostbare Seltenheit wie ein Riesenkarpfen für den Angler: Sie waren schwer zu finden und noch schwerer zu fangen; es bedurfte eines gewaltigen Kraftaufwands, sie an der Angel zu halten, gar mochten sie den Angler ins Wasser ziehen und den Kampf am Ende gewinnen. Brachte man den Fang jedoch ins Boot, so reichte das Fleisch für ein Festmahl, und die Mühe hatte sich tausendfach gelohnt.
Janick hatte nicht vor, sich ins Boot ziehen zu lassen, und erwiderte den gespannten Blick der Kreatur mit geringschätziger Miene.
»Ich habe mich geirrt«, knurrte er. »Ihr seid noch schlimmer als Raubtiere, die nur dem angeborenen Instinkt folgen und aus Hunger töten. Ihr führt eure Opfer schamlos in ein falsches Glück und nennt es noch heilig, wenn ihr ihnen das Wertvollste stehlt: Die Gefühle und Erinnerungen. Mein Geist wird niemals eurer Illusion erliegen! Meine Innenwelt gehört mir allein, und ich nehme sie mit ins Grab! So hat es die Natur vorgesehen, lange bevor ihr in unsere Welt eingedrungen seid, um euer Lügengerüst zu errichten!«
Der Herr verzog das Gesicht und kniff die roten Augen zu Schlitzen. Es geschah selten, dass sich ein Mensch aus der Scheinwelt des Sanatoriums befreite und die verborgenen Vorgänge enthüllte. Die Kreatur ärgerte sich darüber wie ein Zauberkünstler, dessen größter Trick vom Publikum entlarvt wurde und nunmehr wertlos war.
»Mit welchem Recht verurteilst du unsere Spezies? Behandelt deine Rasse das ihr untergebene Leben barmherziger? Wir haben zahlreiche Menschenleben gesehen und wissen, dass ihr oft aus reiner Freude tötet. Gewalt und Gräuel sind euch nicht fremd, also erdreiste dich nicht, uns als barbarisch zu beschimpfen. Die hohe Natur, die auch wir sehr preisen, diktiert nicht nur das Gesetz der Vergänglichkeit, das dir so am Herzen liegt. Sie gibt auch das Überleben des Stärkeren vor, ein Gebot, dem alle Lebensformen folgen, so auch wir. Doch wir treiben die uns unterlegenen Lebewesen nicht qualvoll in den Tod, sondern schenken ihnen die ewige Glückseligkeit. So bedachtsam die Natur ihre Gesetze vergab und in zyklischer Ordnung die Welt gestaltete, so sehr irrte sie in ihrem Entschluss, die Seele an den sterblichen Körper zu binden und mit ihm untergehen zu lassen. Wir bewahren die kostbaren Erinnerungen, die ohne uns unwiederbringlich im Sand der Zeit versickern würden. Erheben wir eure Seelen nicht in das zeitlose Elysium, nach dem all eure Religionen streben?«
»Es ist ja
Weitere Kostenlose Bücher